An diesem Nachmittag saß Measure neben ihm. Alvin hatte ihn zwar begrüßt, als er hereingekommen war, doch es gab nicht viel zu besprechen. Wie geht es? Ich sterbe, danke, und dir? Irgendwie schwierig, das Gespräch aufrechtzuhalten. Measure erzählte, wie er und die Zwillinge versucht hatten, einen Schleifstein zu schlagen. Sie hatten einen weicheren Stein ausgesucht als jenen, mit dem Alvin gearbeitet hatte, und dennoch war es außerordentlich schwierig gewesen. »Schließlich haben wir es aufgegeben«, sagte Measure. »Es muß eben warten, bis du zum Berg hochgehen und uns selbst einen Stein holen kannst.«
Alvin antwortete nicht darauf, und seitdem hatte keiner mehr ein Wort gesagt. Alvin lag in seinem Bett und schwitzte, spürte die Fäulnis in seinem Knochen, wie sie langsam und unentwegt anwuchs. Measure saß da und hielt seine Hand.
Measure begann zu pfeifen.
Das Geräusch erschreckte Alvin. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, daß die Musik aus großer Ferne zu kommen schien; er mußte eine ganze Strecke zurückreisen, um zu entdecken, woher sie stammte.
»Measure«, rief er; doch der Klang seiner Stimme war nur ein Flüstern.
Das Pfeifen verstummte. »Tut mir leid«, sagte Measure. »Stört es dich?«
»Nein«, sagte Alvin.
Measure begann wieder zu pfeifen, eine seltsame Melodie, die Alvin noch nie gehört hatte. Tatsächlich klang es gar nicht wie irgendein Lied. Es wiederholte sich nicht, sondern brachte immer neue Klangmuster hervor, als würde Measure alles gerade erfinden. Wie Alvin dalag und zuhörte, erschien ihm die Melodie wie eine Landkarte, die sich durch eine Wildnis zog, und er begann ihr zu folgen. Nicht daß er irgend etwas gesehen hätte, wie es der Fall gewesen wäre, wäre er einer richtigen Karte gefolgt. Sie schien ihm nur immer wieder die Mitte der Dinge zu zeigen, und alles, woran er dachte, stand in seinen Gedanken eben dort. Es war fast so, als könnte er alles denken, sehen, was er einst geleistet hatte, als würde er versuchen, eine Möglichkeit herauszufinden, um die schlimme Stelle an seinem Knochen zu heilen, nur daß er diesmal von weit entfernt daraufblickte, vielleicht hoch oben von einem Berg aus oder auf einer Lichtung, irgendwo, wo er mehr sehen konnte.
Nun dachte er an etwas, das er noch nie gedacht hatte. Als sein Bein zu Anfang gebrochen war und die ganze Haut zerfetzt, hatten alle Leute sehen können, wie schlimm es ihm ging, doch nur er selbst hatte sich helfen können. Er hatte es von innen heraus heilen müssen. Nun jedoch, da niemand die Wunde sehen konnte, brachte sie ihn um. Und obwohl er sie sehen konnte, konnte er nicht das geringste tun, um sie besser werden zu lassen.
Vielleicht würde ihn diesmal also ein anderer heilen. Überhaupt nicht mir irgendwelchen verborgenen Kräften, sondern mit einer einfachen Operation.
»Measure«, flüsterte er.
»Ich bin hier«, sagte Measure.
»Ich kenne eine Möglichkeit, mein Bein zu heilen«, sagte er.
Measure beugte sich vor. Alvin öffnete die Augen nicht, konnte aber den Atem seines Bruders an seiner Wange spüren.
»Die schlimme Stelle an meinem Knochen, die wird größer, aber sie hat sich noch nicht über alles ausgebreitet«, erklärte Alvin. »Ich kann sie zwar nicht heilen, aber ich schätze, wenn jemand diesen Teil meines Knochens wegschneiden und ihn aus dem Bein nehmen könnte, könnte ich den Rest wieder heilen.«
»Herausschneiden?«
»Pas Knochensäge, mit der er das Fleisch zerteilt, damit könnte es gehen, glaube ich.«
»Aber es gibt doch im Umkreis von dreihundert Meilen keinen einzigen Arzt, der so etwas macht.«
»Dann schätze ich, daß irgend jemand es möglichst schnell lernen sollte, sonst sterbe ich nämlich.«
Measures Atem ging nun schneller. »Du meinst, daß es dir das Leben retten würde, wenn man dir ein Stück aus dem Knochen sägt?«
»Es ist das beste, was mir einfällt.«
»Das könnte dein Bein aber schlimm zurichten«, meinte Measure.
»Wenn ich tot bin, wird es mir egal sein. Und wenn ich lebe, dann wird das ein schlimm zugerichtetes Bein wert sein.«
»Ich gehe Pa holen.«
Measure stieß seinen Stuhl zurück und verließ das Zimmer.
Thrower ließ Brustwehr auf dem Weg bis zu der Veranda der Millers vorangehen. Den Mann ihrer Tochter konnten sie kaum abweisen. Doch seine Sorge war unbegründet. Goody Faith öffnete die Tür, nicht ihr heidnischer Ehemann.
»Aber Reverend Thrower, wie gütig von Euch, uns aufzusuchen und hier vorbeizukommen«, sagte sie. Doch die Fröhlichkeit ihrer Stimme war nur vorgetäuscht, sofern ihr verhärmtes Gesicht die Wahrheit sprach. In diesem Haus hatte man in letzter Zeit nicht viel geschlafen.
»Ich habe ihn mitgebracht, Mutter Faith«, sagte Brustwehr. »Er ist nur gekommen, weil ich ihn darum gebeten habe.«
»Der Pastor unserer Kirche ist in unserem Haus willkommen, wann immer es ihm beliebt vorbeizuschauen«, sagte Faith. Sie führte sie in das große Zimmer. Einige Mädchen, die gerade Flickenquadrate herstellten, blickten von ihren Sesseln am Kamin zu ihm auf. Der kleine Junge, Cally, schrieb gerade seine Buchstaben auf eine Tafel, mit Holzkohle aus dem Feuer.
»Ich freue mich zu sehen, daß du deine Schreibübungen machst«, sagte Thrower.
Cally sah ihn nur an. In seinen Augen erkannte er Feindseligkeit. Anscheinend hatte der Junge etwas dagegen, daß sein Lehrer ihm hier in seinem Heim bei der Arbeit zusah.
»Du machst das gut«, sagte Thrower und versuchte, den Jungen zu besänftigen. Cally erwiderte nichts, sondern kritzelte weiter Wörter.
Brustwehr kam sofort zum Thema. »Mutter Faith, wir kommen wegen Alvin. Ihr wißt, wie ich zur Hexerei stehe, aber ich habe zuvor noch nie ein Wort gegen das gesagt, was ihr in Eurem Heim tut. Ich habe mir immer gesagt, daß das Eure Sache sei und nicht meine. Aber dieser Junge muß nun den Preis für das Böse zahlen, daß Ihr hier geduldet habt. Er hat sein Bein verzaubert, und jetzt ist ein Teufel in ihm und tötet ihn, und ich habe Reverend Thrower mitgebracht, um ihm diesen Teufel auszutreiben.«
Goody Faith wirkte völlig überrascht. »In diesem Haus gibt es keinen Teufel.«
Arme Frau, dachte Thrower, wenn du nur wüßtest, wie lange hier schon ein Teufel wohnt. »Es ist möglich, sich so sehr an die Anwesenheit eines Teufels zu gewöhnen, daß man sie überhaupt nicht mehr bemerkt.«
Eine Tür an der Treppe ging auf, und Mr. Miller trat ins Zimmer. »Nicht mit mir«, sagte er zu irgend jemandem in dem dahinterliegenden Zimmer. »Ich werde kein Messer an den Jungen anlegen.«
Als Cally die Stimme seines Vaters hörte, sprang er auf und lief auf ihn zu. »Brustwehr hat den ollen Thrower mitgebracht, Papa, um den Teufel umzubringen.«
Mr. Miller drehte sich um und schaute die Besucher an, als würde er sie kaum erkennen.
»Ich habe gute, kräftige Zauber auf dieses Haus gelegt«, sagte Goody Faith.
»Diese Zauber sind Einladungen an den Teufel«, sagte Brustwehr. »Ihr meint, daß sie Euer Haus schützten, tatsächlich aber vertreiben sie den Herrn.«
»Hier ist kein Teufel hereingekommen«, beharrte sie.
»Nicht von allein«, erwiderte Brustwehr. »Ihr habt ihn mit Eurer Zauberei herbeigerufen. Ihr habt den Heiligen Geist mit Eurer Hexerei und Eurem Götzenkult aus dem Haus vertrieben und ebenso alles Gute, so daß die Teufel ganz natürlich eindringen. Sie kommen immer, wenn sie auch nur die leiseste Möglichkeit sehen, Unheil zu stiften.«
Thrower machte sich schon ein wenig Sorgen, daß Brustwehr zuviel über Dinge redete, die er nicht wirklich verstand. Es wäre besser gewesen, wenn er einfach nur gefragt hätte, ob Thrower an Alvins Bett für den Jungen beten dürfe.
Und was immer auch in Mr. Millers Kopf gerade vorgehen mochte, so war es doch deutlich zu erkennen, daß dies nicht unbedingt die beste Zeit war, um den Mann zu provozieren. Langsam schritt er auf Brustwehr zu. »Wollt Ihr etwa behaupten, daß das, was in das Haus eines Mannes eindringt, um Unheil zu stiften, der Teufel ist?«
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