Geschichtentauscher kam sich fast vor wie ein Dieb, so viele Dinge mitzunehmen, als er ging. Zwei Paar dicker Socken. Eine neue Decke. Ein Umhang aus Elchhaut. Eingemachtes und Käse. Einen guten Schleifstein.
Und Dinge, von denen sie gar nicht wissen konnte, daß sie sie ihm geschenkt hatten. Ein ausgeruhter Körper, frei von Schmerz und Wunden. Gütige Gesichter, frisch in Erinnerung. Und Geschichten, Geschichten, im versiegelten Teil des Buchs aufgeschrieben, jene, die er selbst schrieb. Und wahre Geschichten, von ihren eigenen Händen schmerzhaft eingeschrieben.
Doch er hatte ihnen einen guten Gegenwert gegeben, oder er hatte es zumindest versucht. Die Dächer waren für den Winter geflickt worden, aber wichtiger war: Sie hatten ein Buch mit Ben Franklins eigener Handschrift darin gesehen. Bevor Geschichtentauscher gekommen war, waren sie Teil ihrer Familie und Teil des Wobbish-Landes gewesen, nicht mehr. Nun gehörten sie viel größeren Geschichten an. Gehörten zum Krieg der Unabhängigkeit der Appalachees und zum Amerikanischen Pakt.
Er hatte ihnen noch einige andere Dinge hinterlassen. Einen geliebten Sohn, den er unter einem stürzenden Mühlstein hervorgezogen hatte, einen Vater, der nun die Kraft besaß, seinen Sohn fortzuschicken, bevor er ihn tötete. Einen Namen für den Alptraum eines jungen Mannes, damit er verstand, daß sein Feind wirklich war, eine geflüsterte Ermutigung an ein zerbrochenes Kind, sich selbst zu heilen.
Und eine einzige Zeichnung, in eine Scheibe Eichenholz mit der Spitze eines heißen Messers eingebrannt. Er hätte viel lieber mit Wachs und Säure auf Metall gearbeitet, doch in dieser Gegend war nichts davon aufzutreiben. Also brannte er Striche ins Holz, machte daraus, was er konnte. Das Bild von einem jungen Mann in der Gewalt eines reißenden Flusses, hilflos verheddert in den Wurzeln eines treibenden Baums. An der Kunstakademie des Lordprotektors hätte es nur Hohn eingebracht, weil das Bild so einfach war. Aber Goody Faith stieß einen Schrei aus, als sie es erblickte, und drückte es an sich, ließ ihre Tränen darüberströmen wie die letzten Tropfen von den Weiden nach einem Regen. Vater Alvin nickte, als er es sah, und sagte: »Das ist Eure Vision, Geschichtentauscher. Ihr habt sein Gesicht vollkommen so wiedergegeben, wie es aussah, und dabei habt Ihr ihn noch nicht einmal gesehen. Das ist Vigor.«
Dann weinte auch er.
Sie befestigten es über dem Kaminsims. Es mochte keine große Kunst sein, dachte Geschichtentauscher, aber es war wahr und bedeutete diesen Menschen mehr, als jedes Porträt irgendeinem fetten alten Lord oder Parlamentarier zu London oder Paris hätte bedeuten können.
»Es ist ein schöner Morgen heute«, sagte Goody Faith. »Ihr habt noch weit zu gehen, bevor es dunkel wird.«
»Ihr könnt es mir nicht verargen, wenn ich zögere zu gehen. Obgleich ich froh bin, daß Ihr mir diesen Botendienst anvertraut habt, und ich werde Euch nicht enttäuschen.«
Er klopfte gegen seine Tasche, in der der Brief an den Hufschmied von Hatrack River lag.
»Ihr könnt nicht gehen, ohne Euch von dem Jungen zu verabschieden«, meinte Miller.
Er hatte es so lange vor sich hingeschoben, wie er nur konnte. Nun nickte er, hob sich aus dem bequemen Sessel am Feuer und schritt zu dem Raum hinüber, in dem er die besten Nächte seines Lebens verbracht hatte. Alvin Juniors Augen waren weit offen, sein Gesicht lebhaft, nicht mehr von Schmerz verzerrt, obwohl er immer noch Schmerzen haben mochte.
»Ihr geht?» fragte der Junge.
»Ich bin schon so gut wie fort, ich muß dir nur noch Lebewohl sagen.«
Alvin wirkte ein bißchen zornig. »Also laßt Ihr mich nicht einmal in Euer Buch schreiben?«
»Das tut nicht jeder, weißt du.«
»Pa hat es getan. Und Mama.«
»Und Cally auch.«
»Ich wette, das sieht bestimmt gut aus«, meinte Alvin. »Der schreibt doch wie ein, wie ein…«
»Wie ein Siebenjähriger.«
Es war eine Zurechtweisung, aber Alvin zuckte nicht zusammen.
»Warum dann nicht ich? Warum Cally und nicht ich?«
»Weil ich die Leute nur die wichtigsten Dinge hineinschreiben lasse, die sie jemals getan oder mit eigenen Augen gesehen haben. Was würdest du denn schreiben?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht über den Mühlstein.«
Geschichtentauscher schnitt eine Grimasse.
»Dann vielleicht über meine Vision. Die ist wichtig, das habt Ihr selbst gesagt.«
»Ja, und sie ist auch schon an anderer Stelle aufgeschrieben worden, Alvin.«
»Ich will etwas in dieses Buch schreiben«, sagte er. »Ich will, daß mein Satz zusammen mit dem des Machers Ben dort drin steht.«
»Noch nicht«, sagte Geschichtentauscher.
»Wann denn!«
»Wenn du diesen verdammten Entmacher vernichtet hast, Junge. Dann werde ich dich in dieses Buch schreiben lassen.«
»Und was, wenn ich ihn nie vernichtet bekomme?«
»Dann ist dieses Buch sowieso nicht viel wert.«
Die Tränen traten Alvin in die Augen. »Was, wenn ich sterbe?«
Ein Angstschauer durchzog Geschichtentauscher. »Wie geht es dem Bein?«
Der Junge zuckte die Achsel. Mit den Augenlidern verdrängte er die Tränen.
»Das ist keine Antwort, Junge.«
»Es hört nicht auf, weh zu tun.«
»Das wird es so lange tun, bis die Knochen verheilt sind.«
Alvin Junior lächelte wehmütig. »Der Knochen ist schon verheilt.«
»Warum gehst du dann nicht?«
»Es tut mir weh, Geschichtentauscher. Es hört nicht auf. Da muß eine schlimme Stelle am Knochen sein, und ich habe noch nicht herausbekommen, wie ich sie richtig heil machen kann.«
»Du wirst schon einen Weg finden.«
»Bisher habe ich ihn noch nicht gefunden.«
»Ein alter Fallensteller hat mal zu mir gesagt: ›Es spielt keine Rolle, ob du am Hintern oder am Brustknochen anfängst, Hauptsache, du bekommst den Panther gehäutet.‹«
»Ist das ein Sprichwort?«
»Es kommt ihm nahe. Du wirst einen Weg finden, auch wenn er nicht das sein sollte, was du erwartest.«
»Ich erwarte gar nichts«, sagte Alvin. »Nichts wird so, wie ich es mir vorstelle.«
»Du bist zehn Jahre alt, Junge. Bist du der Welt schon müde?«
Alvin rieb unentwegt mit Daumen und Fingern an den Falten seiner Decke. »Geschichtentauscher, ich sterbe.«
Geschichtentauscher musterte sein Gesicht, versuchte, darin den Tod zu erkennen. »Das glaube ich nicht.«
»Die schlimme Stelle an meinem Bein. Sie wächst. Vielleicht nur langsam, aber sie wächst. Sie ist unsichtbar, und sie frißt die harten Stellen des Knochens weg, und nach einer Weile wird sie immer schneller und schneller werden und…«
»Und dich entmachen.«
Diesmal weinte Alvin wirklich, und seine Hände zitterten. »Ich habe Angst vor dem Sterben, Geschichtentauscher, aber es ist in mich hineingelangt, und ich kann es nicht mehr herausbekommen.«
Geschichtentauscher legte beruhigend eine Hand auf Alvins. »Du wirst einen Weg finden. Du hast noch viel zuviel auf dieser Welt zu tun, um jetzt schon zu sterben.«
Alvin rollte die Augen. »So etwas Dummes habe ich in diesem Jahr noch nicht gehört. Nur weil jemand noch etwas zu tun hat, muß das noch lange nicht bedeuten, daß er nicht sterben wird.«
»Aber es bedeutet sehr wohl, daß er nicht gern stirbt.«
»Ich sterbe nicht gern.«
»Deshalb wirst du auch einen Weg finden, um am Leben zu bleiben.«
Alvin schwieg ein paar Augenblicke. »Ich habe nachgedacht. Darüber, was ich tun werde, falls ich wirklich überlebe. Darüber, was ich getan habe, damit mein Bein weitgehend heil wird. Ich wette, das kann ich auch für andere Leute tun. Ich kann ihnen die Hände auflegen und spüren, wie es im Inneren aussieht, und es richten. Wäre das nicht gut?«
»Sie würden dich dafür lieben, all die Leute, die du heilst.«
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