»Ich bin erleichtert, das zu hören, Mr. Miller, denn ich selbst habe auch kein großes Verlangen danach, New England wiederzusehen.«
»Wenn Ihr einfach dem Weg folgt, den wir auf unserem Zug nach Westen gemacht haben, so kommt Ihr früher oder später an eine Stelle am Hatrack River, etwa dreißig Meilen nördlich vom Hio, nicht ganz so weit flußabwärts von Fort Dekane. Dort gibt es einen Gasthof, zumindest gab es mal einen, und dahinter einen Friedhof, wo auf einem Stein steht: ›Vigor — er starb um seine Familie zu retten.‹«
»Wollt Ihr, daß ich den Jungen mitnehme?«
»Nein, ich werde ihn jetzt nicht losschicken, wo der Schnee gekommen ist. Wasser…«
»Ich verstehe.«
»Dort gibt es einen Hufschmied. Ich dachte, daß er vielleicht einen Lehrling brauchen könnte. Alvin ist zwar noch jung für sein Alter, aber groß, und ich schätze, daß er für den Hufschmied eine gute Hilfe sein dürfte.«
»Lehrling?«
»Na, zu einem Leibeigenen werde ich ihn doch wohl nicht machen wollen, oder? Und ich habe kein Geld, um ihn auf eine Schule zu schicken.«
»Ich werde den Brief überbringen. Aber ich hoffe, ich kann noch so lange bleiben, bis der Junge aufwacht, damit ich mich verabschieden kann.«
»Ich wollte Euch doch nicht schon heute nacht hinausjagen. Und auch nicht morgen, wo der Neuschnee doch tief genug ist, um die Hasen zu ersticken.«
»Ich wußte nicht, daß Ihr das Wetter bemerkt habt.«
»Ich merke es immer, wenn Wasser im Spiel ist.«
Er lachte verlegen, dann verließen sie den Raum.
Alvin Junior lag da und versuchte sich zu überlegen, warum Pa ihn fortschicken wollte. Hatte er nicht sein ganzes Leben lang versucht, sein Bestes zu tun? Hatte er nicht versucht, allen so gut zu helfen, wie er nur konnte? Ging er nicht auf Reverend Throwers Schule, obwohl der Prediger es darauf abgesehen hatte, ihn entweder wahnsinnig oder dumm zu machen? Und vor allem, hatte er nicht endlich einen vollkommenen Stein vom Berg heruntergebracht, ihn die ganze Zeit zusammengehalten, ihm gesagt, wo er hin sollte, und hatte er zum Schluß nicht sogar sein Bein aufs Spiel gesetzt, nur damit der Stein nicht brach? Und jetzt wollten sie ihn fortschicken.
Lehrling! Bei einem Hufschmied! In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Hufschmied gesehen. Sie mußten drei Tage reiten, um zur nächsten Schmiede zu gelangen, und Pa hatte ihn niemals mitgenommen.
Je mehr er darüber nachdachte, um so wütender wurde er. Hatte er Mama und Papa nicht angefleht, ihn doch einfach allein durch den Wald gehen zu lassen, und hatten sie es ihm nicht verboten? Immer mußte jemand bei ihm sein, als wäre er ein Gefangener oder ein Sklave, der gleich davonlaufen würde. Kam er irgendwohin auch nur fünf Minuten zu spät, so suchten sie gleich nach ihm. Nie durfte er lange Reisen machen — die längsten waren immer nur zum Steinbruch gewesen. Und jetzt, nachdem sie ihn sein ganzes Leben wie eine Weihnachtsgans eingesperrt gehalten hatten, wollten sie ihn ans Ende der Welt schicken.
Es war so schrecklich ungerecht, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen und die Wangen herabströmten, genau in seine Ohren hinein, was sich so albern anfühlte, daß er lachen mußte.
»Worüber lachst du?» fragte Cally.
Alvin hatte ihn nicht hereinkommen hören.
»Geht es dir jetzt besser? Es blutet gar nicht mehr, Al.«
Cally berührte seine Wange.
»Weinst du, weil es so weh tut?«
Alvin hätte ihm wahrscheinlich antworten können, doch es bereitete ihm zuviel Mühe, den Mund zu öffnen und die Worte hervorzupressen, daher schüttelte er nur den Kopf.
»Wirst du sterben, Alvin?» fragte Cally.
Er schüttelte erneut den Kopf.
»Oh«, sagte Cally. Er klang so enttäuscht, daß es Alvin ein bißchen zornig machte. Zornig genug, um ihn zum Sprechen zu bringen. »Tut mir leid«, krächzte er.
»Na ja, irgendwie ist das ungerecht«, meinte Cally. »Ich wollte ja gar nicht, daß du stirbst, aber alle haben gesagt, du würdest sterben. Und da habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, wenn ich derjenige wäre, um den sich alle kümmern. Die ganze Zeit, alles paßt auf dich auf, und wenn ich nur irgend etwas sage, dann sagen sie einfach: Hau ab, Cally. Dich hat niemand gefragt, Cally. Mußt du nicht schon im Bett sein, Cally? Denen ist es egal, was ich tue. Nur wenn ich anfange, dich zu hauen, dann sagen alle, Prügle dich nicht, Cally.«
»Für eine Feldmaus ringst du recht gut«, wollte Alvin sagen, doch er war sich nicht sicher, ob seine Lippen sich überhaupt bewegt hatten.
»Weißt du, was ich mal gemacht habe, als ich sechs war? Ich bin hinausgegangen und habe mich im Wald verirrt. Bin einfach nur gelaufen und gelaufen. Manchmal habe ich die Augen geschlossen und mich ein paarmal umgedreht, damit ich mir nicht mehr sicher war, wo ich war. Ich muß den halben Tag weggewesen sein. Aber meinst du, irgendeine Menschenseele wäre gekommen, um nach mir zu suchen? Schließlich mußte ich kehrtmachen und wieder alleine nach Hause zurückfinden. Da hat niemand gesagt: Wo bist du den ganzen Tag gewesen, Cally? Mama hat einfach nur gesagt: Deine Hände sind so schmutzig wie der Hintern eines kranken Pferds, geh und wasch dich.«
Alvin lachte wieder, fast stumm, mit bebender Brust.
»Ja, für dich ist das lustig. Alle kümmern sich nur um dich.«
Diesmal strengte Alvin sich sehr an, um ein Geräusch hervorzubringen. »Willst du mich forthaben?«
Cally wartete lange Zeit, bis er antwortete. »Nein. Wer soll denn dann mit mir spielen? Nur die doofen, ollen Vettern. In dem Haufen gibt es nicht einen einzigen guten Ringer.«
»Ich gehe«, flüsterte Alvin.
»Nein, tust du nicht. Du bist der siebente Sohn, und sie werden dich niemals gehen lassen.«
»Gehe.«
»Allerdings, so wie ich das zähle, bin ich diese Nummer sieben. David, Calm, Measure, Wastenot, Wantnot, Alvin Junior bist du, und dann komme ich, das sind sieben.«
»Vigor.«
»Der ist schon lange tot. Das sollte jemand mal Ma und Pa erzählen.«
Alvin lag da, müde von den wenigen Worten, die er gesagt hatte. Dann schwieg auch Cally. Er saß einfach nur da, so still, wie er nur sein konnte, und hielt Alvins Hand fest. Schon bald begann Alvin davonzuschweben, so daß er sich nicht ganz sicher war, ob Cally wirklich gesprochen hatte oder ob er es nur träumte. Aber er hörte Cally sagen: »Ich will dich nie tot haben, Alvin.«
Und dann hatte er vielleicht gesagt: »Ich wünschte, ich wäre du.«
Aber Alvin schwebte in den Schlaf hinein, und als er erwachte, war niemand bei ihm. Das Haus war still bis auf die Geräusche der Nacht und bis auf den Wind, der an den Läden klapperte.
Einmal mehr tauchte Alvin in sein Inneres hinein und arbeitete sich bis zur Wunde vor. Nur daß er diesmal nicht viel mit der Haut und dem Muskel zu tun hatte. Jetzt arbeitete er an den Knochen. Es überraschte ihn, wie porös sie waren, überall von kleinen Löchern bedeckt, gar nicht fest wie der Mühlstein, aber schon bald hatte er sie verstanden. Nach einer Weile war es ein leichtes, die Knochen fest zusammenzufügen.
Dennoch war irgend etwas mit diesem Knochen verkehrt. Irgend etwas in seinem schlimmen Bein würde nicht genauso werden wie im gesunden. Aber es war so klein, daß er es nicht deutlich erkennen konnte. Er wußte nur, daß es, was immer war, den Knochen im Inneren krank machte, nur ein winziger Fleck Krankheit, aber er bekam nicht heraus, wie er ihn heilen sollte. Es war, als wollte man eine Schneeflocke vom Boden aufheben: Immer, wenn er glaubte, daß er etwas zu packen bekommen hatte, stellte es sich als Nichts heraus oder vielleicht auch als zu klein, um es sehen zu können.
Vielleicht würde es aber auch verschwinden. Wenn alles andere besser wurde, dann würde diese kranke Stelle seines Knochens vielleicht auch von allein besser werden.
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