Alvin packte Geschichtentauschers Arm. »Wie«, flüsterte er.
»Das weiß ich nicht, Junge«, sagte Geschichtentauscher.
»Wie du deine Macht benutzen mußt, das mußt du selbst herausfinden. Ich kann dir nur sagen, daß du es versuchen mußt, sonst bekommt der Feind seinen Sieg, und dann muß ich deine Geschichte damit beenden, wie dein Leichnam ins Grab herabgelassen wurde.«
Zu Geschichtentauschers Überraschung lächelte Alvin. Dann begriff Geschichtentauscher den Witz. Seine Geschichte würde ohnehin mit dem Grab enden, gleichgültig, was er heute tat. »Also gut, Junge«, sagte Geschichtentauscher. »Aber lieber hätte ich noch ein paar weitere Seiten über dich, bevor ich unter das Buch Alvin das Finis setze.«
»Ich werde es versuchen», flüsterte Alvin.
Wenn er es versuchte, dann würde er mit Sicherheit auch Erfolg haben. Alvins Beschützer hatte ihn nicht soweit geführt, nur um ihn jetzt sterben zu lassen. Geschichtentauscher zweifelte nicht daran, daß Alvin die Macht besaß, sich selbst zu heilen, wenn er nur herausbekam, wie es geschehen mußte. Sein eigener Körper war sehr viel komplizierter als der Stein. Doch wenn er leben sollte, mußte er auch die Wege seines eigenen Fleisches kennenlernen.
Man errichtete Geschichtentauscher draußen im großen Zimmer ein Bett. Er erbot sich, neben Alvins Bett auf dem Boden zu schlafen, doch Miller lehnte ab: »Das ist mein Platz.«
Geschichtentauscher fiel es schwer, einzuschlafen. Mitten in der Nacht gab er es schließlich auf, zündete mit einem Holz aus dem Feuer eine Laterne an und ging hinaus.
Der Wind war frisch. Ein Sturm braute sich zusammen, und vielleicht würde es sogar schneien. In der großen Scheune waren die Tiere unruhig. Geschichtentauscher kam der Gedanke, daß er heute abend möglicherweise nicht allein im Freien war. Vielleicht lauerten Rote in den Schatten, oder vielleicht wanderten sie sogar zwischen den Gebäuden der Farm umher und beobachteten ihn. Er erschauerte einmal, dann schüttelte er die Furcht ab. Die Nacht war zu kalt. Selbst die blutrünstigsten Choc-Taws und Cree-Eks, die vom Süden zum Spionieren herbeigekommen wären, müßten zu klug sein, um sich bei einem solchen drohenden Sturm noch draußen aufzuhalten.
Schon bald würde Schnee fallen. Hätte Alvin sie mit dem Mühlstein nicht an einem Tag zurückeilen lassen, sie hätten wahrscheinlich versuchen müssen, mitten im Schneefall den Stein mit dem Schlitten nach Hause zu bringen.
Geschichtentauscher fand sich in der Mühle wieder, den Stein betrachtend. Er sah so fest aus, daß es schwerfiel sich vorzustellen, wie irgend jemand ihn jemals bewegen sollte. Wieder berührte er seine Oberfläche, wobei er vorsichtig genug war, um sich nicht daran zu schneiden. Seine Finger fuhren über die flachen Furchen, wo das Mehl sich sammeln würde, wenn das große Wasserrad den Mittelpfahl drehte und den oberen Mühlstein auf dem unteren herum und herum bewegte, so stetig, wie die Erde sich um die Sonne bewegte, Jahr um Jahr, die Zeit in Staub verwandelnd, so sicher, wie die Mühle Getreide zu Mehl mahlte.
Er blickte hinab an die Stelle, wo der Boden unter dem Mühlstein ein Stück nachgegeben hatte, um ihn umzukippen und den Jungen fast zu töten. Der Boden der Mulde glitzerte im Laternenlicht. Geschichtentauscher kniete nieder und tauchte seinen Finger in Wasser. Es mußte sich unterirdisch gesammelt haben, um den Grund aufzuweichen.
Ah, Entmacher, dachte Geschichtentauscher, zeige dich mir, dann baue ich ein solches Gebäude, daß du darin auf alle Zeiten angekettet und gefangen bleiben wirst. Doch so sehr er sich bemühte, er konnte keine bebende Luft erkennen, die sich Alvin Millers siebentem Sohn gezeigt hatte. Schließlich nahm Geschichtentauscher die Laterne auf und verließ die Mühle. Die ersten Schneeflocken fielen. Der Wind hatte sich fast gelegt. Der Schnee kam immer schneller und schneller, tänzelte im Licht der Laterne. Als er das Haus erreicht hatte, war der Boden grau von Schnee, der Wald in der Ferne unsichtbar. Er ging ins Haus, legte sich auf den Boden, ohne auch nur seine Stiefel auszuziehen, und schlief ein.
Sie ließen Tag und Nacht ein Feuer brennen, so daß die Mauersteine vor Hitze zu glühen schienen und die Luft in seinem Raum trocken blieb. Alvin lag auf dem Bett, ohne sich zu bewegen, sein rechtes Bein schwer von Schienen und Verbänden. Ihm war schwindlig und ein wenig übel.
Doch er bemerkte das Gewicht seines Beins und seinen Schwindel kaum. Der Schmerz war sein Feind. Das Pochen und Stechen lenkte seinen Geist von der Aufgabe ab, die Geschichtentauscher ihm gestellt hatte: sich selbst zu heilen.
Und doch war der Schmerz zugleich auch sein Freund. Er errichtete eine Mauer um ihn, so daß er kaum wußte, wo er sich befand. Die Welt um ihn hätte in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen können, er hätte es nie bemerkt. Denn es war die Welt im Inneren, die er nun erforschte.
Geschichtentauscher hatte ja kaum eine Ahnung gehabt, wovon er geredet hatte. Es war keine Frage, im Geist irgendwelche Bilder zu erschaffen. Sein Bein würde nicht besser werden, wenn er nur so tat, als sei es geheilt. Dennoch hatte Geschichtentauscher den richtigen Gedanken gehabt. Wenn Alvin sich durch Felsgestein tasten konnte, um die schwachen und starken Stellen zu finden und ihnen beizubringen, wo sie brechen und wo sie halten sollten, warum sollte er es da nicht auch mit Haut und Knochen können?
Das Problem war, daß Haut sich anders als Gestein mit jeder Schicht veränderte. Mit geschlossenen Augen lag er auf dem Bett und sah zum ersten Mal in sein eigenes Fleisch hinein. Zuerst hatte er versucht, dem Schmerz zu folgen, doch das brachte nichts, es hatte ihn lediglich dort hingeführt, wo alles zerquetscht und zerschnitten und durcheinander war, so daß er das Oben nicht vom Unten unterscheiden konnte. Nach langer Zeit hatte er es mit einer anderen Methode versucht. Er lauschte seinem Herzschlag. Zuerst schien der Schmerz ihn ständig davon fortzureißen, doch nach einer Weile konzentrierte er sich allein auf dieses Geräusch. Wenn es in der Außenwelt laut gewesen sein sollte, so merkte er jedenfalls nichts davon, weil der Schmerz alles ausschloß. Und der Rhythmus der Herzschlags schloß er den Schmerz aus, zumindest meistens.
Er folgte den Bahnen seines Blutes, dem großen, kräftigen Strom, den kleinen Strömen. Manchmal verirrte er sich. Manchmal unterbrach ihn einfach ein Stechen in seinem Bein und verlangte, gehört zu werden. Doch nach und nach fand er seinen Weg zu der gesunden Haut und den gesunden Knochen im anderen Bein. Dort war das Blut nicht halb so kräftig, aber es führte ihn dorthin, wo er hin wollte. Er entdeckte all die Schichten, wie die Häute einer Zwiebel. Er erfuhr ihre Anordnung, sah, wie der Muskel zusammengehalten wurde und wie die winzigen Venen miteinander verbunden waren.
Erst danach fand er den Weg zu dem schlimmen Bein. Der Hautfetzen, den Mama angenäht hatte, war fast tot, stand kurz vor dem Faulen. Alvin Junior jedoch wußte, was er brauchte, damit dieser Teil überleben konnte. Er fand die abgequetschten Enden der Arterien um die Wunde und fing an, sie zum Wachsen zu drängen, genau wie er Risse durch Gestein zu führen pflegte. Verglichen hiermit war der Stein sehr viel einfacher zu behandeln — um sich zu spalten, mußte er einfach loslassen, das war alles. Das lebendige Fleisch aber tat nur sehr viel langsamer, was er von ihm verlangte, und schon bald gab er alles andere auf, richtete seine Aufmerksamkeit nur noch auf die kräftigste Arterie.
Er sah, wie sie Stücke und Teile von diesem und jenem verwendete, um etwas aufzubauen. Vieles von dem, was geschah, war viel zu klein und schnell und kompliziert, als daß Alvins Geist es hätte begreifen können. Doch er konnte seinen Körper dazu bringen, freizusetzen, was die Arterie brauchte, um zu wachsen. Er konnte es dort hinschicken, wo es gebraucht wurde, und nach einer Weile verband sich die Arterie mit dem verfaulten Gewebe. Es bedurfte einiger Anstrengung, doch schließlich entdeckte er das Ende einer verschrumpften Arterie und verband sie miteinander, ließ das Blut in den angenähten Flecken strömen.
Читать дальше