»Angenommen, ich glaube Euch«, sagte Alvin. »Angenommen, es gibt so etwas wie den Entmacher. Dann kann ich doch nicht die geringste verdammte Sache dagegen tun.«
Ein langsames Lächeln zog sich über Geschichtentauschers Gesicht. Er hob den kleinen Käferkorb auf, der im Gras lag. »Sieht das hier wie eine verdammte Sache aus?«
»Das ist nur ein Haufen Gras.«
»Es war einmal ein Haufen Gras«, widersprach Geschichtentauscher. »Und wenn du es wieder auseinanderrupfst, wird es wieder ein Haufen Gras sein. Aber jetzt, hier und jetzt, ist es mehr als das.«
»Nur ein kleiner Käferkorb.«
»Etwas, das du gemacht hast.«
»Na ja, von allein wächst Gras bestimmt nicht so.«
»Und als du es gemacht hast, da hast du den Entmacher zurückgeschlagen.«
»Nicht weit«, meinte Alvin.
»Nein«, stimmte Geschichtentauscher ihm zu. »Aber durch das Machen eines einzigen Käferkorbs hast du ihn zurückgeschlagen.«
Plötzlich wurde Alvin alles klar. Die ganze Geschichte, die Geschichtentauscher zu erzählen versuchte. Alvin kannte alle möglichen Gegensätze auf der Welt: Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Freiheit und Sklaverei, Liebe und Haß. Aber einen noch viel tieferen Gegensatz gab es zwischen dem Machen und dem Entmachen. So tief, daß kaum jemand bemerkte, daß dies der größte Gegensatz von allen war. Aber er bemerkte es, und das machte den Entmacher zu seinem Feind. Deshalb suchte der Entmacher ihn im Schlaf heim. Schließlich besaß Alvin ja sein besonderes Talent, Dinge in Ordnung zu bringen, sie in jenen Zustand zu versetzen, in dem sie sein sollten.
»Ich glaube, meine richtige Vision handelte von derselben Sache«, meinte Alvin.
»Du brauchst mir nicht von dem leuchtenden Mann zu erzählen«, warf Geschichtentauscher ein. »Ich möchte dich nicht ausspionieren.«
»Ihr meint, daß Ihr immer nur zufällig spioniert?» fragte Alvin.
Für eine solche Bemerkung hätte er Zuhause eine Ohrfeige bekommen, doch Geschichtentauscher lachte nur.
»Ich habe etwas Böses getan und wußte es nicht einmal«, erzählte Alvin. »Der leuchtende Mann kam und blieb am Fußende meines Bettes stehen und zeigte mir erst eine Vision von dem, was ich getan hatte, damit ich wußte, daß es böse war. Ich kann Euch sagen, ich habe geweint, weil ich erkannte, wie böse ich gewesen war. Doch dann zeigte er mir, wofür mein Talent gedacht ist, und nun sehe ich, daß es dieselbe Sache ist, von der Ihr sprecht. Ich habe einen Stein gesehen, den ich aus einem Berg zog; er war rund wie eine Kugel, und als ich näher hinsah, entdeckte ich, daß es die ganze Welt war, mit Wäldern, Bergen und Tieren. Dafür ist mein Talent gedacht, um zu versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen.«
Geschichtentauschers Augen glitzerten. »Der leuchtende Mann hat dir eine solche Vision gezeigt«, sagte er. »Eine solche Vision, für die ich selbst mein Leben hergeben würde.«
»Nur weil ich mein Talent benutzt habe, um anderen zu schaden, nur für mein eigenes Vergnügen«, erklärte Alvin. »Damals habe ich das feierliche Versprechen abgelegt, Talent niemals für mich selbst zu verwenden, sondern immer nur für andere.«
»Ein gutes Versprechen«, meinte Geschichtentauscher. »Ich wünschte, alle Männer und alle Frauen auf der Welt würden einen solchen Eid leisten und ihn auch halten.«
»Jedenfalls weiß ich daher, daß er… der Entmacher keine Vision ist. Nicht einmal der leuchtende Mann war eine Vision. Was er mir gezeigt hat, das war eine Vision, aber wie er dort stand, war er wirklich.«
»Und der Entmacher?«
»Er ist da. Ich bilde mir ihn nicht nur ein.«
Geschichtentauscher nickte, ohne den Blick von Alvin zu nehmen.
»Ich muß Dinge machen«, sagte Alvin. »Schneller, als er sie zerstören kann.«
»So schnell kann niemand Dinge machen«, wandte Geschichtentauscher ein. »Wenn alle Menschen auf der Welt aus aller Erde viele, viele Millionen Ziegel machten und jeden Tag ihres Lebens an einer Mauer bauten, dann würde die Mauer schneller zerbröckeln, als sie sie bauen könnten. Manche Teile der Mauer würden sogar schon zusammenbrechen, bevor sie sie erbaut haben.«
»Aber eine Mauer kann doch nicht zusammenbrechen, bevor man sie überhaupt gebaut hat«, widersprach Alvin.
»Wenn die Menschen lange genug arbeiten, zerbröckeln die Ziegel zu Staub, wenn sie sie aufnehmen, verfaulen ihre eigenen Hände und tropfen wie Schleim von ihren Knochen herab, bis Ziegel und Fleisch und Knochen sich gleichermaßen in Staub auflösen. Dann wird der Entmacher niesen, und der Staub wird sich so unendlich weit verteilen, daß er niemals wieder zusammenfinden kann. Dann wird das Universum kalt sein, stumm, still, dunkel, und der Entmacher hat endlich zur Ruhe gefunden.«
Alvin versuchte in Geschichtentauschers Worten einen Sinn zu erkennen. Genauso verwirrt war er, wann immer Thrower in der Schule über Religion sprach. Er konnte nicht anders, er mußte seine Fragen stellen, auch wenn so etwas die Leute oft böse machte. »Wenn die Dinge schneller auseinanderbrechen, als sie erschaffen werden, wie kommt es dann, daß überhaupt noch etwas da ist? Warum hat der Entmacher nicht schon längst gewonnen? Was tun wir dann hier?«
Geschichtentauscher war nicht Reverend Thrower. Alvins Frage machte ihn nicht zornig. Er zog nur die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Du hast recht. Dann könnten wir gar nicht hier sein. Dann wäre unsere Existenz unmöglich.«
»Na, wir sind aber hier, falls Euch das noch nicht aufgefallen sein sollte«, meinte Alvin. »Was ist das für eine dumme Geschichte, wenn wir einander bloß anschauen müssen, um zu erkennen, daß sie nicht wahr ist?«
»Ich gebe zu, daß sie ihre Probleme mit sich bringt.«
»Ich dachte, Ihr würdet immer nur Geschichten erzählen, die Ihr glaubt.«
»Während ich sie erzählte, habe ich auch daran geglaubt.«
Geschichtentauscher sah so traurig aus, daß Alvin die Hand ausstreckte und sie dem Mann auf die Schulter legte, obwohl sein Mantel so dick war und Alvins Hand so klein, daß er sich nicht sicher war, ob Geschichtentauscher es überhaupt spürte. »Ich habe sie auch geglaubt. Zumindest, eine Weile.«
»Dann ist auch etwas Wahrheit darin. Vielleicht nicht viel, aber etwas.«
Geschichtentauscher sah erleichtert aus.
Doch Alvin konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Nur weil Ihr es glaubt, muß es noch nicht so sein.«
Geschichtentauschers Augen weiteten sich. Jetzt habe ich es geschafft, dachte Alvin. Jetzt habe ich ihn so zornig gemacht, wie ich Thrower immer zornig mache. Daher war er nicht überrascht, als Geschichtentauscher ihm beide Arme entgegenstreckte, Alvins Gesicht zwischen die Hände nahm und mit solcher Kraft zu ihm sprach, daß sich die Worte tief in Alvins Stirn eingruben. »Alles, was zu glauben möglich ist, ist auch ein Abbild der Wahrheit.«
Und diese Worte durchfuhren ihn tatsächlich; er verstand sie, obwohl er nicht ausdrücken konnte, was genau er verstand. Alles, was zu glauben möglich ist, ist auch ein Abbild der Wahrheit, zumindest liegt etwas Wahres darin. Und wenn ich es im Geiste durchgehe, dann kann ich vielleicht feststellen, was daran wahr ist und was falsch…
Alvin erkannte noch etwas anderes: All seine Streitgespräche mit Thrower liefen auf eines hinaus, nämlich daß Alvin, wenn ihm etwas nicht einleuchte, nicht daran glaubte, und dann konnten ihn auch noch soviele Zitate aus der Bibel nicht überzeugen. Geschichtentauscher sagte ihm gerade, daß er im Recht war, sich zu weigern, an Dinge zu glauben, die keinen Sinn ergaben. »Geschichtentauscher, soll das heißen, daß das, was ich nicht glaube, auch nicht wahr sein kann?«
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