»Es ist nichts, aber nicht unsichtbar?«
»Es dringt in alles ein, in die kleinsten Ritzen und reißt alles auseinander. Es zittert und zittert, bis von den Dingen nichts mehr übrig ist als Staub, und dann durchzittert es den Staub, und ich versuche, es abzuhalten, aber es wird größer und größer, es überrollt alles andere, bis es den ganzen Himmel und die ganze Erde ausfüllt.«
Alvin konnte sich nicht mehr beherrschen. Er zitterte vor Kälte, obwohl er so dick eingemummt war wie ein Bär.
»Wie oft hast du das schon gesehen?«
»Seit ich mich erinnern kann. Es überfällt mich dann und wann. Meistens denke ich einfach an andere Dinge, dann bleibt es zurück.«
»Wo?«
»Irgendwo weit entfernt.«
Alvin kniete sich nieder, und dann setzte er sich erschöpft, setzte sich mit seiner Sonntagshose mitten ins feuchte Gras, doch er bemerkte es kaum. »Als Ihr davon gesprochen habt, wie die Worte sich immer und immer weiter ausdehnen, habe ich es wieder gesehen.«
»Ein Traum, der immer wiederkommt, versucht uns die Wahrheit mitzuteilen«, meinte Geschichtentauscher.
Der alte Mann war so eifrig, was diese Sache anging, daß Alvin sich fragte, ob er wirklich begriff, wie grauenerregend sie war. »Das ist nicht eine von Euren Geschichten, Geschichtentauscher.«
»Es wird aber eine werden«, erwiderte Geschichtentauscher, »sobald ich sie verstanden haben.» Geschichtentauscher setzte sich neben ihn und dachte sehr lange schweigend nach. Auch Alvin saß stumm da, verbog mit den Fingern Grashalme. Nach einer Weile wurde er ungeduldig. »Vielleicht könnt Ihr auch nicht alles verstehen«, meinte er. »Vielleicht ist das nur eine Verrücktheit in mir. Vielleicht bekomme ich ja auch bloß irgendwelche Anfälle von Wahnsinn.«
»Da«, sagte Geschichtentauscher, ohne überhaupt zu bemerkten, daß Alvin etwas gesagt hatte. »Jetzt ist mir ein Sinn eingefallen. Laß ihn mich sagen, dann werden wir mal sehen, ob wir daran glauben.«
Alvin schätzte es nicht, ignoriert zu werden. »Oder vielleicht bekommt Ihr Wahnsinnsanfälle, habt Ihr darüber schon einmal nachgedacht, Geschichtentauscher?«
Geschichtentauscher wischte Alvins Zweifel beiseite. »Das ganze Universum ist nur ein Traum in Gottes Geist, und solange er schläft, glaubt er daran und die Dinge bleiben wirklich. Was du siehst, das ist Gott, wie er aufwacht, wie er ganz langsam aufwacht und wie sein Wachsein sich durch den Traum zieht, das Universum auflöst, bis er sich schließlich aufsetzt, die Augen reibt und sagt: ›Oh, was für ein Traum, ich wünschte, ich könnte mich noch an ihn erinnern‹, und in diesem Augenblick sind wir alle verschwunden.«
Begierig sah er Alvin an. »Wie war das?«
»Wenn Ihr das glauben solltet, Geschichtentauscher, dann seid Ihr wirklich ein verdammter Narr, genau wie Brustwehr Weaver es sagt.«
»Ach, das sagt er, ja?«
Plötzlich ließ Geschichtentauscher die Hand hervorschießen und packte Alvin am Handgelenk. Alvin war so überrascht davon, daß er fallenließ, was er eben noch gehalten hatte. »Nein! Heb es auf! Schau dir an, was du getan hast!«
»Ich habe nur ein bißchen herumgefummelt, herrje!«
Geschichtentauscher griff hinunter und nahm auf, was Alvin hatte fallenlassen. Es war ein winziger Korb, kaum ein Zoll im Durchmesser, aus Herbstgräsern gefertigt. »Gerade hast du das hier gemacht.«
»Ich schätze, schon«, meinte Alvin.
»Warum hast du es getan?«
»Ich habe es einfach nur gemacht.«
»Du hast nicht einmal darüber nachgedacht?«
»Es ist ja nicht gerade ein großartiger Korb. Ich habe sie früher für Cally gemacht. Damals hat er sie Käferkörbe genannt. Sie fallen ziemlich schnell wieder auseinander.«
»Du hast eine Vision von nichts gehabt, und dann mußtest du etwas machen.«
Alvin musterte den Korb. »Wird wohl so sein.«
»Machst du das immer?«
Alvin dachte an die anderen Zeiten zurück, da er die zitternde Luft wahrgenommen hatte. »Ich mache immer irgendwelche Dinge«, erwiderte er. »Hat nicht viel zu bedeuten.«
»Aber du fühlst dich erst dann wieder in Ordnung, wenn du etwas gemacht hast. Nachdem du die Vision des Nichts geschaut hast, findest du erst wieder zu deinem Frieden, nachdem du etwas gefertigt hast.«
»Vielleicht muß ich es einfach nur abarbeiten.«
»Nicht einfach nur arbeiten, nicht wahr, Junge? Holzhacken würde das nicht für dich bringen, Eiersammeln, Wasserschleppen, Heumähen, all das erleichtert dich nicht.«
Nun begann Alvin das Muster zu erkennen, das Geschichtentauscher entdeckt hatte. Es stimmte, soweit er sich zurückerinnern konnte. Er war manchmal nach einem solchen Traum in der Nacht aufgewacht und war seiner eigenen Unruhe nicht mehr Herr geworden, bis er irgendeine Webarbeit erledigt, einen Heuhaufen aufgestapelt oder aus Getreideresten für eine der Basen eine Puppe gebastelt hatte. Ebenso, wenn die Vision ihn bei Tag heimsuchte — dann konnte er keine gewöhnliche Arbeit mehr ordentlich verrichten, bevor er nicht etwas erschaffen hatte, das zuvor nicht dagewesen war, und wenn es nicht mehr sein mochte als ein Steinhaufen.
»Es stimmt doch, nicht wahr? Du tust das jedesmal, nicht wahr?«
»Meistens.«
»Dann will ich dir den Namen des Nichts nennen. Es ist der Entmacher.«
»Nie davon gehört«, meinte Alvin.
»Ich auch nicht, bis jetzt. Das liegt daran, weil es gerne im geheimen bleibt. Es ist der Feind all dessen, was existiert. Es möchte alles nur in Stücke hauen und diese Stücke wiederum in andere Stücke, bis überhaupt nichts mehr übrigbleibt.«
»Wenn man etwas in Stücke haut und aus diesen Stücken weitere macht, dann bekommt man aber nicht nichts«, wandte Alvin ein. »Dann hat man einfach nur haufenweise kleine Stücke.«
»Halt den Mund und hör dir die Geschichte an«, meinte Geschichtentauscher.
Alvin war es gewohnt, daß man so barsch mit ihm redete, daher verwunderte ihn dieser Ton des alten Mannes nicht sonderlich.
»Ich spreche hier nicht von Gut und Böse«, fuhr Geschichtentauscher fort. »Nicht einmal der Teufel könnte es sich leisten, hier alles zu zerstören, nicht wahr, sonst würde er nämlich aufhören zu existieren, genau wie alles andere. Die bösesten Kreaturen wollen nicht etwa alles vernichten — sie wollen es nur für sich ausbeuten.«
Alvin hatte das Wort ausbeuten noch nie gehört, doch es klang ziemlich unangenehm.
»Daher sollten in dem großen Krieg zwischen dem Entmacher und allem anderen Gott und der Teufel auf derselben Seite kämpfen. Doch der Teufel, der weiß das nicht, so daß er allzu häufig dem Entmacher dient.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß der Teufel sich selbst schlagen will?«
»Meine Geschichte handelt nicht vom Teufel«, sagte Geschichtentauscher. »Im großen Krieg gegen den Entmacher in deiner Vision sollten alle Männer und alle Frauen auf der Welt Verbündete sein. Doch der große Feind bleibt unsichtbar, so daß niemand merkt, wenn er ihm ungewollt dient. Sie erkennen nicht, daß der Krieg der Verbündete des Entmachers ist, weil er alles niederreißt, was er berührt. Sie verstehen nicht, daß Feuer, Mord, Verbrechen, Habgier und Wollust die dünnen Bande zerreißen, die Menschen zu Völkern, Städten, Familien, Freunden und Seelen machen.«
»Ihr müßt wohl doch ein richtiger Prophet sein«, meinte Alvin Junior, »ich verstehe nämlich nichts von dem, was Ihr da sagt.«
»Ein Prophet«, murmelte Geschichtentauscher, »aber es waren deine Augen, die gesehen haben. Jetzt erkenne ich die Qual des Aaron: die Wahrheit sprechen zu müssen, ohne jedoch jemals eine eigene Vision zu haben.«
»Ihr macht aber ziemlich viel aus meinen Alpträumen.«
Geschichtentauscher schwieg, er saß am Boden, die Ellenbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn völlig niedergeschlagen auf die Handflächen gestützt. Alvin versuchte zu begreifen, wovon der Mann sprach. Es war ganz sicher, daß das, was er in seinen schlimmen Träumen sah, kein Ding war, also mußte es dichterisches Gerede sein, vom Entmacher zu sprechen wie von einer Person. Aber vielleicht stimmte es ja, vielleicht war der Entmacher nicht irgend etwas, das er sich nur einbildete, sondern existierte wirklich, und vielleicht war Al Junior der einzige Mensch, der ihn sehen konnte. Vielleicht drohte der Welt eine schreckliche Gefahr, und vielleicht war es Alvins Aufgabe, sie abzuwehren, sie zurückzuschlagen, das Ding im Zaum zu halten. Ganz gewiß war, daß Alvin es nicht ertrug, wenn der Traum ihn heimsuchte, daß er ihn vertreiben wollte. Doch nie wußte er, wie er das tun konnte.
Читать дальше