»Ihr lächelt bereits wieder.«
»Ich lebe weiter, Reverend Thrower. Ich lebe einfach weiter. Das ist nicht dasselbe, wie zu vergessen.«
Er nickte.
»Also… sagt mir, was Ihr entdeckt habt«, sagte sie.
»Entdeckt?«
»Beim Befühlen seiner Höcker. Beim Gehirnruten. Hat er eins?«
»Normal. Absolut normal. An seinem Schädel ist nichts Auffälliges.«
Sie grunzte. » Nichts ungewöhnlich?«
»So ist es.«
»Na, wenn Ihr mich fragt, dann ist das aber wirklich ungewöhnlich, sofern jemand nur klug genug ist, um es zu bemerken.«
Sie nahm den Schemel auf und trug ihn davon, im Gehen nach Al und Cally rufend.
Nach einem kurzen Augenblick begriff Reverend Thrower, daß sie recht hatte. Niemand war so vollkommen durchschnittlich. Jeder Mann hatte irgendeinen Zug, der stärker ausgeprägt war als die anderen. Es war nicht normal, daß Al so gut ausgewogen war. Jede nur erdenkliche Fähigkeit zu besitzen, die sich am Schädel ablesen ließ, und dies in genau gleichmäßigen Proportionen. Das Kind war alles andere als durchschnittlich, es war außergewöhnlich, obgleich Thrower keine Ahnung hatte, was es für sein Leben bedeuten würde. Ein Hansdampf in allen Gassen, der nichts richtig beherrschte? Oder ein Meister aller Dinge?
Aberglaube hin, Aberglaube her, Thrower geriet ins Grübeln. Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes, eine erstaunliche Kopfform und das Wunder — ein anderes Wort fand er dafür nicht — des Dachbalkens. Nach dem Gesetz der Natur hätte jedes gewöhnliche Kind heute den Tod gefunden. Doch irgend jemand oder irgend etwas beschützte dieses Kind, und das Gesetz der Natur hatte nachgeben müssen.
Als das Gerede verstummt war, machten die Männer sich wieder an ihre Arbeit. Der ursprüngliche Balken war natürlich nutzlos geworden, und so trugen sie die beiden Teile hinaus. Nach allem, was geschehen war, hegten sie keine Absicht, die Balken noch irgendwie weiterzuverwenden. Statt dessen machten sie sich ans Werk, bis zum späten Nachmittag hatten sie einen neuen Balken gefertigt und das Gerüst wieder aufgebaut. Bei Anbruch der Nacht stand das ganze Dachgerüst endlich. Niemand sprach mehr von dem wundersamen Vorfall, zumindest nicht in Throwers Gegenwart, und als er den zersplitterten Stützpfahl suchen ging, konnte er ihn nirgendwo mehr finden.
Alvin Junior hatte keine Angst, als er den Balken fallen sah, er hatte auch keine Angst, als er zu beiden Seiten neben ihm auf den Boden krachte. Doch als all die Erwachsenen anfingen, Freudentänze zu vollführen, ihn zu umarmen und flüsternd zu ihm sprechen, da bekam er Angst. Erwachsene taten oft so seltsame Dinge.
Wie Papa, der neben dem Feuer auf dem Fußboden saß und einfach nur die Splitterteile des Stützpfahls musterte, das Holzstück, das unter dem Gewicht des Dachbalkens auseinandergebrochen war und ihn hatte in die Tiefe stürzen lassen. Eigentlich durfte weder Papa noch sonst jemand große alte Splitterstücke und schmutziges Holz ins Haus bringen. Doch heute war Mama genauso verrückt wie Papa. Als er mit den großen alten Holzsplittern aufgetaucht war, hatte sie sich einfach nur vorgebeugt, den Teppich aufgerollt und war Papa aus dem Weg gegangen.
Na ja, wer Papa nicht aus dem Weg ging, wenn er diesen sonderbaren Gesichtsausdruck hatte, der war auch viel zu dumm, um es zu überleben. David und Calm hatten Glück, sie konnten in ihre eigenen Häuser auf ihren eigenen Lichtungen zurückkehren, wo ihre eigenen Frauen ihnen ein Abendessen kochten, und sie konnten es sich aussuchen, ob sie verrückt werden wollten oder nicht. Die anderen hatten nicht soviel Glück. Wenn Papa und Mama verrückt waren, mußten sie es auch werden. Nicht eines der Mädchen zankte sich mit den anderen, und alle halfen sie, das Abendessen aufzutragen und danach wieder abzuräumen. Wastenot und Wantnot gingen hinaus und hackten Holz und molken die Kühe, ohne einander auch nur in den Arm zu knuffen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Ringkämpfen, was für Alvin Junior eine große Enttäuschung war, weil er doch immer gegen den Verlierer ringen durfte. Measure saß einfach nur am Feuer, schnitzte einen großen Löffel für Mamas Kochtopf; er hob nicht einmal den Blick, doch wie alle anderen wartete er darauf, daß Papa wieder er selbst wurde und irgend jemanden anbrüllte.
Normal verhielt sich heute nur Calvin, der Dreijährige. Das Problem war nur, daß für den normal bedeutete, wie ein Kätzchen auf Mäusejagd hinter Alvin herzuzotteln. Er kam niemals nahe genug heran, um mit Alvin Junior zu spielen oder um ihn zu berühren oder mit ihm zu sprechen. Er war einfach nur da, immer nur am Rande des Geschehens, so daß Alvin immer gerade aufblickte, wenn Calvin den Blick abwandte, oder kurz sein Hemd aufblitzen sah, wenn er sich hinter eine Tür duckte, oder manchmal mitten in der Nacht nur ein Atmen vernahm, das ihm sagte, daß Calvin nicht auf seiner Pritsche lag, sondern direkt neben Alvins Bett stand und ihn beobachtete. Niemandem sonst schien das aufzufallen. Es war schon über ein Jahr her, seit Alvin ihn gebeten hatte, damit aufzuhören. Wenn Alvin Junior jemals gesagt hätte: »Ma, Cally belästigt mich«, hätte Mama einfach nur geantwortet: »Al Junior, er hat kein Wort gesagt, er hat dich nicht angefaßt, und wenn du es nicht magst, daß er so ruhig dasteht, ist das dein Pech, denn mir paßt es gut. Ich wünschte mir wirklich, daß einige meiner anderen Kinder lernen würden, so still zu sein.«
Alvin überlegte sich, daß nicht etwa Calvin heute normal war, es war lediglich so, daß der Rest der Familie sich seinem gewöhnlichen Grad der Verrücktheit angepaßt hatte.
Papa starrte unentwegt das gesplitterte Holz an. Dann und wann legte er es so zusammen, wie es vorher gewesen war. Einmal fragte er gedankenverloren: »Measure, bist du sicher, daß du alle Teile mitgebracht hast?«
Measure erwiderte: »Jedes einzelne Stück, Pa. Ich hätte nicht einmal mehr zusammenbekommen, wenn ich mich hinuntergebeugt und es wie ein Hund aufgeschleckt hätte.«
Ma hörte natürlich zu. Papa hatte einmal gesagt, daß Ma, wenn sie aufpaßte, mitten im Sturm, während die Mädchen mit dem Geschirr klapperten und die Jungen Holz hackten, auf eine halbe Meile Entfernung noch ein Eichhörnchen furzen hören konnte. Alvin Junior fragte sich manchmal, ob das bedeuten sollte, daß Ma mehr von Hexerei verstand, als sie zugab, denn er hatte einmal im Wald keine drei Ellen von einem Eichhörnchen entfernt über eine Stunde lang dagesessen und es nicht einmal Rülpsen gehört.
Jedenfalls war sie heute abend hier im Haus, so daß sie natürlich hörte, was Papa gefragt hatte, und sie hörte auch, was Measure antwortete, und da sie genauso verrückt war wie Papa, schimpfte sie sofort los, als hätte Measure den Namen des Herrn geschändet. »Hüte deine Zunge, junger Mann, denn der Herr sprach zu Moses auf dem Berg, ehre deinen Vater und deine Mutter, auf daß deine Tage zahlreich seien auf dem Land, das der Herr dein Gott dir gegeben hat. Wenn du frech mit deinem Vater redest, dann verkürzt du dein eigenes Leben um Tage und Wochen und sogar Jahre, und deine Seele ist nicht gerade in einem solchen Zustand, als daß du dir ein frühzeitiges Erscheinen vor dem Jüngsten Gericht wünschen solltest!«
Measure machte sich nur halb so wenig Sorgen über sein ewiges Leben wie darüber, daß Mama ihn ausschimpfte. Er versuchte überhaupt nicht, sich damit herauszureden, daß er doch gar nicht frech oder aufmüpfig sein wollte — nur ein Narr würde das tun, wenn Mama so in Fahrt war. Er zuckte einfach nur zusammen, blickte eingeschüchtert drein und bat sie um ihre Vergebung. Als sie schließlich mit ihrer Strafpredigt fertig war, hatte der arme Measure sich schon ein halbes Dutzend Mal entschuldigt, so daß sie sich schließlich wieder an ihre Näharbeit machte.
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