Septimus hätte gern geantwortet, aber seine Kiefer waren fest ineinander verkantet, und er knirschte nur mit den Zähnen. Das Herz klopfte in seiner Brust wie eine kleine Trommel, nicht in seinem üblichen, regelmäßigen Rhythmus, sondern wild und unberechenbar. Er spürte, wie in jeder Vene, jeder Arterie Feuer durch seinen Körper floß, oder vielleicht war es auch Eis, so genau konnte er es nicht sagen.
Eine alte Frau erschien in seinem Blickfeld. Sie sah aus wie die Frau, die in der Holzhütte gewohnt hatte, nur älter, viel älter. Septimus versuchte zu blinzeln, Tränen verschleierten seinen Blick, aber er hatte vergessen, wie man blinzelt, und seine Augen wollten sich nicht schließen.
»Du solltest dich was schämen«, sagte die Frau. »Brandstiftung und Körperverletzung, und das bei einer armen einsamen alten Dame, die jedem vorbeiziehenden Vagabunden wehrlos ausgeliefert wäre ohne die Hilfe ihrer kleinen Freunde.«
Damit hob sie etwas vom kalkigen Boden auf und legte es sich ums Handgelenk. Dann ging sie in die Hütte zurück, die entweder gar nicht erst verbrannt oder aber wiederhergestellt war – Septimus wußte nicht, was er denken sollte, aber es war ihm auch gleichgültig.
Sein Herz vibrierte und stotterte in seiner Brust, und wenn er zu schreien vermocht hätte, hätte er es getan. Die Morgendämmerung kam, ehe die Qual endete und seine älteren Brüder Septimus in ihren Reihen willkommen hießen.
Ein letztes Mal schaute Septimus auf den verkrampften, noch warmen Körper hinunter, den er einst bewohnt hatte, auf den Ausdruck in den toten Augen. Dann wandte er sich ab.
»Jetzt ist kein Bruder mehr übrig, der sich an ihr rächen könnte«, sagte er mit der Stimme des erwachenden Brachvogels, »und keiner von uns wird je der Lord von Stormhold sein. Laßt uns weiterziehen.«
Nachdem er dies gesagt hatte, gab es nicht einmal mehr Geister an jenem Ort.
* * *
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Madame Semeles Wohnwagen durch die Kalkschlucht von Diggory’s Dyke schaukelte.
Madame Semele bemerkte den rußgeschwärzten Holzhaufen neben der Straße, und als sie näher kamen, entdeckte sie auch die gebückte alte Frau in ihrem verblichenen roten Kleid, die ihr vom Straßenrand aus zuwinkte. Das Haar der Alten war weiß wie Schnee, ihre Haut runzlig, ein Auge blind.
»Guten Tag, Schwester. Was ist mit deinem Haus passiert?« fragte Madame Semele.
»Ach, die Jugend von heute. So ein Knabe hat sich gedacht, es wäre ein guter Scherz, einer armen alten Frau, die noch nie einer Seele etwas zuleide getan hat, das Dach über dem Kopf anzuzünden. Tja, er hat seine Lektion aber schnell gelernt.«
»Ja, ja«, bestätigte Madame Semele. »Sie lernen zwar, aber sie sind niemals dankbar für die Lektionen.«
»Da hast du vollkommen recht«, meinte die Frau in dem verblichenen roten Kleid. »Nun, erzähl mir, meine Liebe. Wer reist denn da mit dir?«
»Das geht dich nun wahrhaftig nichts an«, entgegnete Madame Semele von oben herab, »und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern würdest.«
»Wer reist mit dir? Sag mir die Wahrheit, denn sonst lasse ich dich von Harpien zerreißen und hänge deine Überreste an einen Haken weit unterhalb der Welt.«
»Und wer magst du sein, daß du solche Drohungen ausstößt?«
Mit einem normalen und einem milchigen Auge starrte die Frau zu Madame Semele empor. »Ich kenne dich, Straßengraben-Sal. Riskier hier bloß keine große Lippe. Wer reist mit dir?«
Madame Semele spürte, wie ihr die Worte aus dem Mund gerissen wurden, ob sie nun sprechen wollte oder nicht. »Zwei Maultiere, die meinen Wohnwagen ziehen, ich selbst, eine Dienerin in Gestalt eines großen Vogels und ein junger Mann in Gestalt einer Haselmaus.«
»Sonst noch jemand? Sonst noch etwas?«
»Niemand und nichts. Das schwöre ich bei der Schwesternschaft.«
Die Frau am Straßenrand verzog den Mund. »Dann verschwinde hier, und zwar ein bißchen plötzlich«, befahl sie.
Madame Semele schnalzte mit der Zunge, schüttelte die Zügel, und die Maultiere trotteten weiter.
Im dunklen Wageninneren schlief die Sternfrau in ihrem geborgten Bett weiter, ohne zu merken, welches Unheil über ihrem Haupt geschwebt hatte, dem sie nur um Haaresbreite entgangen war.
Als sie außer Sichtweite der Zweighütte und der tödlich weißen Felsen von Diggory’s Dyke waren, schwang sich der exotische Vogel auf seine Stange, legte den Kopf in den Nacken und jauchzte und krähte und sang, bis Madame Semele ihm mitteilte, sie würde ihm seinen blöden Hals umdrehen, wenn er nicht augenblicklich damit aufhörte. Und selbst da, in der Dunkelheit des Wageninneren, gluckste und zirpte und trillerte der hübsche Vogel vor sich hin, und einmal ahmte er sogar einen Waldkauz nach.
* * *
Die Sonne stand schon tief am westlichen Himmel, als sie sich dem Dorf Wall näherten. Sie schien ihnen direkt in die Augen, so daß sie kaum etwas sehen konnten. Um sie herum glänzte die Welt wie flüssiges Gold. Himmel, Bäume, Büsche und sogar der Weg schimmerten golden im Licht der untergehenden Sonne.
Auf der Wiese, wo sie den Stand aufbauen wollte, zügelte Madame Semele ihre Maultiere. Dann nahm sie ihnen das Zaumzeug ab und führte sie zum Bach, wo sie die beiden an einen Baum band. Die durstigen Tiere tranken gierig.
Auf der Wiese bauten bereits andere Marktleute und Besucher ihre Buden auf; überall herrschte erwartungsvolle Stimmung.
Madame Semele kletterte in ihren Wohnwagen und hakte den Käfig von der Kette. Vorsichtig trug sie ihn hinaus auf die Wiese und stellte ihn auf einen Grashügel. Dann öffnete sie die Käfigtür und angelte mit ihren knochigen Fingern nach der schlafenden Haselmaus. »Raus mit dir«, sagte sie. Die Haselmaus rieb sich mit den Vorderpfoten ihre glänzenden schwarzen Knopfaugen und blinzelte ins verblassende Tageslicht.
Die Hexe faßte in die Schürzentasche und holte eine Glasnarzisse hervor. Damit berührte sie den Kopf der Maus.
Tristran blinzelte verschlafen und gähnte. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die widerspenstigen braunen Haare und funkelte die Alte wütend an. »Du gemeine alte Vettel…«, begann er.
»Halt du nur dein dummes Mundwerk«, unterbrach Madame Semele ihn mit scharfer Stimme. »Ich hab’ dich sicher und wohlbehalten hierhergebracht, in der gleichen Verfassung, in der ich dich gefunden habe. Ich habe dir zu essen und Unterkunft gegeben, und wenn dir etwas daran nicht gefallen hat – was juckt’s mich? Jetzt verschwinde, ehe ich dich in einen Wurm verwandle und dir den Kopf abbeiße, falls ich nicht aus Versehen den Schwanz erwische. Geh! Husch, husch!«
Tristran zählte bis zehn, dann drehte er sich wenig anmutig um und ging davon. Nach etwa zwölf Metern blieb er neben einem Gebüsch stehen und wartete auf die Sternfrau, die gerade vom Wohnwagen geklettert war und ihm folgte.
»Alles in Ordnung?« fragte er, ehrlich besorgt.
»Ja, danke«, antwortete Yvaine. »Sie hat mir nichts getan. Genaugenommen hat sie, glaube ich, gar nicht bemerkt, daß ich überhaupt da war. Ist das nicht sonderbar?«
Jetzt hatte sich Madame Semele vor den Vogel gesetzt. Auch seinen gefiederten Kopf berührte sie mit ihrer Glasblume, bis der Vogel sich reckte und streckte und sich schließlich in eine junge Frau verwandelte, dem Äußeren nach nicht viel älter als Tristran, mit dunklen, lockigen Haaren und pelzigen Katzenohren. Sie warf Tristran einen Blick zu, und in ihren violetten Augen war etwas, was Tristran sehr, sehr vertraut vorkam, obgleich er sich absolut nicht erinnern konnte, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
»Also das ist die wahre Gestalt des Vogels«, sagte Yvaine. »Sie war eine gute Reisegefährtin.« Da bemerkte sie, daß die Silberkette, die den Vogel gefangen gehalten hatte, noch immer da war, auch jetzt, da der Vogel zu einer Frau geworden war; die Kette glitzerte an ihrem Hand- und Fußgelenk, und Yvaine machte Tristran darauf aufmerksam.
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