Er schauderte. Er fühlte sich so kalt, daß seine Finger schmerzten. »Wenn ich das nie mehr mache, wenn ich es nie wieder berühre, dann werde ich nicht... « Er konnte es nicht aussprechen. Verrückt. Das Land und die Menschen um sich herum in den Wahn stürzen. Sterben und verfaulen, während er noch am Leben war.
»Vielleicht«, sagte Moiraine. »Es wäre viel leichter, wenn dich jemand lehren würde, es zu beherrschen, aber es kann auch so gehen, wenn auch nur mit einer übermenschlichen Willenskraft.«
»Du kannst mich lehren. Sicherlich kannst du... « Er brach ab, als die Aes Sedai den Kopf schüttelte.
»Kann eine Katze einem Hund beibringen, wie man auf einen Baum klettert, Rand? Kann ein Fisch einem Vogel das Schwimmen beibringen? Ich kenne Saidar, doch ich kann dich nichts in bezug auf Saidin lehren. Diejenigen, die das könnten, sind seit dreitausend Jahren tot. Aber vielleicht bist du widerstandsfähig genug. Vielleicht ist dein Wille stark genug.«
Egwene richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen. Sie sah aus, als wolle sie etwas sagen, aber als sie den Mund öffnete, kam kein Laut heraus. Wenigstens zieht sie sich nicht zurück. Wenigstens kann sie mich ansehen, ohne zu schreien.
»Die anderen?« fragte er.
»Lan hat sie mit in die Höhle genommen«, sagte Nynaeve. »Das Auge ist verschwunden, aber es ist irgend etwas in der Mitte des Sees, eine Kristallsäule und Stufen, um zu ihr zu kommen. Mat und Perrin wollten zuerst nach dir suchen — Loial hat das auch getan -, aber Moiraine sagte... « Sie sah die Aes Sedai besorgt an. Moiraine erwiderte ihren Blick ruhig. »Sie sagte, wir dürften dich nicht stören, während du... «
Seine Kehle zog sich zusammen, bis er kaum noch Luft bekam. Werden sie auch, wie Egwene, die ihre Gesichter abwenden? Werden sie schreien und weglaufen, als sei ich ein Blasser? Moiraine sprach weiter, als bemerke sie gar nicht, wie sein Gesicht erblaßte.
»Es war eine ungeheure Menge der Einen Macht im Auge gespeichert. Selbst im Zeitalter der Legenden hätten nur wenige eine solche Menge ohne Hilfe beherrschen können. Sehr wenige. Die meisten hätten sich selbst zerstört.«
»Hast du es ihnen gesagt?« fragte er heiser. »Wenn es alle wissen... «
»Nur Lan«, sagte Moiraine sanft. »Er muß es wissen. Und Nynaeve und Egwene, um dessentwillen, was sie sind und was sie werden. Bei den anderen bestand noch keine Notwendigkeit.«
»Warum nicht?« Sein Hals war so rauh, daß seine Stimme ganz hart klang. »Ihr werdet doch wohl wollen, daß man mir Beschränkungen auferlegt, oder? Das machen doch die Aes Sedai mit Männern, die die Eine Macht lenken können. Sie so verändern, daß sie das nicht mehr können? Sie ›sicher‹ machen? Thom sagte, Männer, denen Beschränkungen auferlegt wurden, sterben, weil sie nicht mehr weiterleben wollen. Warum erzählst du nichts davon, da man mich nach Tar Valon bringen und mir Einhalt gebieten wird?«
»Du bist ta'veren«, antwortete Moiraine. »Vielleicht ist das Muster noch nicht mit dir fertig.«
Rand setzte sich steif und aufrecht hin. »In den Träumen sagte Ba'alzamon, Tar Valon und der Amyrlin-Sitz würden versuchen, mich zu benützen. Er hat Namen genannt, und an einige davon erinnere ich mich jetzt. Raolin Dunkelbann und Guaire Amalasan. Yurian Steinbogen. Davian. Logain.« Den letzten Namen auszusprechen, fiel ihm am schwersten von allen. Nynaeve wurde bleich, und Egwene schnappte nach Luft, doch er fuhr zornig fort: »Jeder von ihnen ein falscher Drache. Versuche nicht, das abzustreiten. Also, ich werde mich nicht benützen lassen. Ich bin kein Werkzeug, das ihr auf den Müllhaufen werfen könnt, wenn es abgewetzt ist.«
»Ein Werkzeug, das zu einem bestimmten Zweck angefertigt wurde, wird nicht herabgesetzt, wenn man es zu eben diesem Zweck benützt.« Moiraines Stimme klang genauso hart wie die seine. »Aber ein Mann, der dem Vater der Lügen Glauben schenkt, setzt sich selbst herab. Du sagst, du wirst dich nicht benützen lassen, und dann läßt du deinen Weg von dem Dunklen König vorbestimmen, wie ein Hund, den sein Herr ein Kaninchen jagen läßt.«
Er ballte die Fäuste und drehte den Kopf weg. Das klang zu sehr nach den Dingen, die Ba'alzamon gesagt hatte. »Ich werde für niemanden den Jagdhund spielen. Verstehst du mich? Für niemanden!«
Loial und die anderen erschienen im Torbogen, und Rand stand mühsam auf, den Blick auf Moiraine gerichtet.
»Sie werden es nicht erfahren«, sagte die Aes Sedai, »bis das Muster es anders will.«
Dann waren seine Freunde nah. Lan führte sie an. Er sah so hart aus wie immer, aber etwas mitgenommener als sonst. Er trug eine von Nynaeves Bandagen um die Schläfen gewickelt und lief ziemlich steif einher. Hinter ihm trug Loial eine große, goldene Truhe, die mit Silber eingelegt und fein verziert war. Keiner außer einem Ogier hätte sie ohne Hilfe aufheben können. Perrin trug ein großes Bündel zusammengefalteten weißen Stoffes in den Armen, und Mat hielt vorsichtig etwas in beiden Händen, das wie die Bruchstücke eines Keramikgegenstandes aussah.
»Also lebst du doch noch.« Mat lachte. Sein Gesichtsausdruck wurde finsterer, und er nickte in Richtung Moiraine. »Sie hat uns nicht nach dir suchen lassen. Sagte, wir sollten herausfinden, was das Auge verbarg. Ich wäre trotzdem losgegangen, aber Nynaeve und Egwene schlossen sich ihr an und warfen mich beinahe durch den Bogen.«
»Aber jetzt bist du hier«, sagte Perrin, »und so, wie du aussiehst, bist du nicht zu schlecht davongekommen.« Seine Augen glühten wohl nicht, aber die Pupillen waren jetzt ganz gelb. »Das ist das Wichtigste. Du bist hier, und wir sind mit dem fertig, was wir hier zu erledigen hatten, was das auch gewesen sein mag. Moiraine Sedai sagt, wir seien fertig und wir könnten gehen. Heim, Rand. Licht, verseng mich, aber ich will nach Hause.«
»Gut, dich lebendig vorzufinden, Schafhirte«, sagte Lan mürrisch. »Wie ich sehe, hast du dein Schwert nicht verloren. Vielleicht wirst du jetzt lernen, es richtig zu benützen.« Rand fühlte sich auf einmal zu dem Behüter hingezogen; Lan wußte Bescheid, aber an der Oberfläche wenigstens hatte sich nichts geändert. Er dachte, vielleicht habe sich für Lan auch inwendig nichts geändert.
»Ich muß schon sagen«, sagte Loial und stellte die Truhe auf den Boden, »mit ta'veren zu reisen hat sich als noch interessanter erwiesen, als ich erwartete.« Seine Ohren zuckten lebhaft. »Falls es noch ein wenig interessanter werden sollte, gehe ich schnurstracks zurück zum Stedding Schangtai, gestehe dem Ältesten Haman alles und verlasse meine Bücher nie mehr.« Plötzlich grinste der Ogier. Sein breiter Mund spaltete sein Gesicht in zwei Hälften. »Es ist so gut, dich wiederzusehen, Rand al'Thor. Der Behüter ist der einzige von diesen dreien hier, der überhaupt etwas von Büchern hält, und er spricht nicht darüber. Was ist mit dir geschehen? Wir rannten alle weg und versteckten uns im Wald, bis Moiraine Sedai Lan ausschickte, um uns aufzuspüren, aber sie hat uns nicht nach dir suchen lassen. Warum warst du so lange weg, Rand?«
»Ich bin gerannt und gerannt«, sagte er bedächtig, »bis ich einen Hügel runterfiel und mit dem Kopf gegen einen Stein prallte. Ich glaube, ich bin bei dem Sturz so ziemlich gegen jeden Stein gestoßen, der hügelabwärts lag.« Das sollte seine Abschürfungen erklären. Er versuchte, die Aes Sedai und Nynaeve und Egwene im Auge zu behalten, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Als ich wieder zu mir kam, wußte ich nicht mehr, wo ich war. Schließlich bin ich dann doch hierher zurückgestolpert. Ich glaube, Aginor ist tot, verbrannt. Ich habe Asche gefunden und Fetzen von seinem Umhang.«
Die Lügen klangen für ihn so leicht durchschaubar. Er konnte nicht verstehen, warum sie nicht verächtlich lachten und verlangten, daß er die Wahrheit sage, aber seine Freunde nickten nur, akzeptierten sie und gaben ein paar mitleidige Worte von sich, während sie zu der Aes Sedai gingen, um ihr zu zeigen, was sie gefunden hatten.
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