Verin hatte für sie ein privates Speisezimmer genommen, wo auf den Regalen an den dunkel getäfelten Wänden noch mehr Silber stand als im Schankraum. Mat jonglierte drei hartgekochte Eier und bemühte sich, dabei einen selbstverständlichen Eindruck zu erwecken. Ingtar blickte mit finsterer Miene in den kalten Kamin. Loial hatte immer noch ein paar Bücher aus Fal Dara in den Manteltaschen gehabt und saß lesend neben einer Lampe.
Perrin saß zusammengesunken am Tisch und betrachtete seine gefalteten Hände. Mit seinem feinen Geruchssinn roch er das Bienenwachs, das man zum Putzen der Täfelung benützte. Er war es, dachte er. Rand ist der Schattentöter. Licht, was geschieht mit uns allen? Seine Hände verkrampften sich zu großen, kantigen Fäusten. Diese Hände sind für einen Schmiedehammer bestimmt und nicht für eine Streitaxt. Er blickte auf, als Rand eintrat. Perrin glaubte, einen entschlossenen Zug an ihm zu bemerken, als habe er sich zu einem ganz bestimmten Vorgehen entschieden. Die Aes Sedai bedeutete Rand, sich auf einen hohen Lehnstuhl ihr gegenüber zu setzen.
»Wie geht es Hurin?« fragte Rand, während er sein Schwert nach hinten schob, damit er sich setzen konnte. »Ruht er?«
»Er bestand darauf, rauszugehen«, antwortete Ingtar. »Ich sagte ihm, er solle die Spur nur soweit verfolgen, bis er Trollocs roch. Von da an können wir sie morgen wiederaufnehmen. Oder wollt Ihr heute abend noch hinterherreiten?«
»Ingtar«, sagte Rand nervös, »ich wollte wirklich nicht das Kommando übernehmen. Ich habe mir einfach nichts dabei gedacht.« Und doch sagte er das nicht so unsicher, wie er so etwas früher gesagt hätte, dachte sich Perrin. Schattentöter. Wir ändern uns alle. Ingtar antwortete nicht. Er starrte weiter in den dunklen Kamin.
»Es gibt da einige Dinge, die mich sehr interessieren, Rand«, sagte Verin ruhig. »Eines davon ist, wie Ihr spurlos aus Ingtars Lager verschwinden konntet. Ein weiteres wäre, wie Ihr in Cairhien eine Woche vor uns ankommen konntet. Die Angaben des Beamten waren in dieser Hinsicht ganz eindeutig. Ihr müßt geflogen sein.«
Eines von Mats Eiern fiel zu Boden und zerbrach. Aber er beachtete es gar nicht. Er sah Rand an, und auch Ingtar hatte sich umgedreht. Loial gab vor, immer noch zu lesen, aber sein Blick war besorgt, und seine Ohren standen in steifen, haarigen Spitzen hoch.
Perrin wurde klar, daß auch er Rand anstarrte. »Also, geflogen sind sie nicht«, sagte er. »Ich kann keine Flügel erkennen. Vielleicht hat er uns auch noch Wichtigeres mitzuteilen.« Verin widmete ihm kurz ihre Aufmerksamkeit. Er brachte es fertig, ihr in die Augen zu sehen, aber er war es auch, der den Blick zuerst abwandte.
Aes Sedai. Licht, warum waren wir solche Narren, einer Aes Sedai zu folgen? Rand warf ihm einen dankbaren Blick zu, und Perrin grinste ihn an. Es war nicht der alte Rand — er schien mittlerweile in diesen prächtigen Mantel hineingewachsen zu sein; jetzt wirkte er an ihm passend —aber er war doch immer noch der Junge, mit dem Perrin aufgewachsen war. Schattentöter. Ein Mann, vor dem die Wölfe Ehrfurcht haben. Ein Mann, der die Macht benützt. »Ich habe nichts dagegen, jetzt ein wenig zu berichten«, sagte Rand und begann einfach drauflos zu erzählen.
Perrin lauschte mit offenem Mund. Portalsteine. Andere Welten, wo das Land sich ständig zu verändern schien. Hurin, der einer Spur folgte, wo die Schattenfreunde einmal sein würden! Und eine schöne Frau in Not, wie in der Erzählung eines Gauklers.
Mat pfiff leise und staunend durch die Zähne. »Und sie hat euch zurückgebracht? Mit Hilfe eines dieser — Steine?«
Rand zögerte einen Moment lang. »Das muß sie wohl«, sagte er. »Und deshalb sind wir so lange vor euch hier angekommen. Als Fain ankam, haben Loial und ich in der Nacht das Horn von Valere zurückgestohlen und sind weiter nach Cairhien geritten, weil ich nicht glaubte, daß wir an ihnen vorbeikommen konnten, wenn sie erst richtig wach waren, und weil ich wußte, daß Ingtar sie weiter nach Süden verfolgen und schließlich auch in Cairhien ankommen würde.«
Schattentöter. Rand sah ihn an, und seine Augen zogen sich zusammen. Perrin wurde klar, daß er die Bezeichnung laut ausgesprochen hatte. Allerdings wohl nicht laut genug, daß ihn sonst noch jemand im Raum gehört hatte. Niemand sonst sah ihn an. Er hätte so gern Rand von den Wölfen erzählt. Ich habe über dich Bescheid gewußt. Es ist nur gerecht, wenn ich dir auch von meinem
Geheimnis erzähle. Aber Verin war dabei. Er konnte es nicht vor ihr sagen.
»Interessant«, sagte die Aes Sedai mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Ich würde dieses Mädchen sehr gern kennenlernen. Wenn sie Portalsteine benützen kann... Selbst diese Bezeichnung kennen nicht viele.« Sie schüttelte sich kurz. »Na ja, ein andermal. In den Häusern Cairhiens sollte ein hochgewachsenes Mädchen unschwer zu finden sein. Aaah, da ist unser Essen.«
Perrin roch das Lammfleisch bereits, bevor Frau Tiedra eine Prozession mit Schüsseln voll Essen hereinführte. Ihm lief bei dem Fleischgeruch das Wasser im Mund zusammen. Erbsen und Kürbis, Karotten und Weißkohl oder die heißen, knusprigen Brötchen reizten ihn weniger. Ihm schmeckte Gemüse wohl durchaus noch, aber in letzter Zeit träumte er häufiger von rohem Fleisch. Es verwirrte ihn, als er sich dabei ertappte, daß er die schönen rosa Scheiben Lammfleisch, die ihm die Wirtin herunterschnitt, für zu stark durchgebraten hielt. Entschlossen packte er sich mehr Beilagen auf den Teller. Und noch mal zwei Scheiben Lammbraten.
Sie aßen schweigend; jeder konzentrierte sich auf die eigenen Gedanken. Perrin tat es weh, Mat beim Essen zuzusehen. Mats Appetit war so gesund wie immer, obwohl sein Gesicht fiebrig gerötet war, und so, wie er spachtelte, wirkte es, als esse er seine Henkersmahlzeit. Perrin sah so oft wie möglich auf seinen Teller und wünschte sich, sie hätten Emondsfeld niemals verlassen.
Nachdem die Bedienungen den Tisch abgeräumt hatten und wieder weg waren, bestand Verin darauf, daß sie zusammenblieben, bis Hurin wiederkäme. »Es könnte sein, daß er etwas weiß und wir sofort aufbrechen müssen.«
Mat nahm sein Jonglieren wieder auf, und Loial widmete sich wieder seiner Lektüre. Rand fragte die Wirtin, ob sie Bücher da hätte, und sie brachte ihm Die Reisen des Jain Fernstreicher. Das gefiel auch Perrin, mit all den Geschichten über Abenteuer beim Meervolk und Reisen in Länder jenseits der Aielwüste, dorthin, wo die Seide herkam. Aber dann stand ihm der Sinn doch nicht nach Lesen, und so holte er ein Brettspiel und baute es zwischen sich und Ingtar auf dem Tisch auf. Der Schienarer spielte verwegen und fast leichtsinnig. Perrin hatte immer defensiv gespielt, doch nun ertappte er sich dabei, wie er genauso verwegen zu spielen begann wie Ingtar. Die meisten Partien endeten unentschieden, aber er schaffte es immerhin, genauso oft wie Ingtar zu gewinnen. Am frühen Abend betrachtete ihn der Schienarer mit neuem Respekt. Dann kehrte der Schnüffler zurück.
Hurins Grinsen wirkte gleichzeitig triumphierend und verblüfft. »Ich habe sie gefunden, Lord Ingtar. Lord Rand. Ich habe sie bis zu ihrem Unterschlupf verfolgt.«
»Unterschlupf?« fragte Ingtar scharf. »Soll das heißen, daß sie sich irgendwo in der Nähe verbergen?«
»Ja, Lord Ingtar! Diejenigen, die das Horn stahlen. Ich bin ihnen geradewegs dorthin gefolgt. Überall der Gestank von Trollocs! Und trotzdem haben sie sich hingeschlichen, als ob sie es nicht wagten, sich sehen zu lassen. Kein Wunder!« Der Schnüffler holte tief Luft. »Sie sind in dem großen Herrenhaus, das Lord Barthanes gerade fertigstellen ließ.«
»Lord Barthanes!« rief Ingtar. »Aber er... er ist... er ist doch... «
Читать дальше