»Du wirst mir zuhören, Rand al'Thor, und wenn ich mich auf dich setzen muß!« Sie berührte Saidar und lenkte den Strom, so daß die Luft ihn wie in einem Netz festhielt.
Das Schwert wirbelte in seiner Hand und dröhnte dabei wie das Feuer eines Hochofens.
Sie ächzte und taumelte. Es war, als sei ein zu straff gespanntes Seil plötzlich gerissen.
Rand lachte. »Ich lerne es auch, wie du siehst. Wenn es funktioniert... « Er verzog das Gesicht und ging auf sie zu. »Ich könnte jedes Gesicht ertragen, aber nicht das. Nicht ihr Gesicht, seng dich!« Das Schwert blitzte auf.
Egwene floh.
Sie war sich nicht sicher, was sie da tat oder wie, aber sie befand sich mit einem Mal wieder zwischen den Hügeln unter einem strahlenden Himmel, und Lerchen sangen und Schmetterlinge tanzten. Sie atmete tief und zittrig ein.
Ich habe erfahren — was? Daß der Dunkle König noch hinter Rand her ist? Das weiß ich auch so. Daß der Dunkle König ihn wahrscheinlich töten will? Das ist etwas anderes. Außer, er ist tatsächlich bereits wahnsinnig und weiß nicht, was er sagt. Licht, warum konnte ich ihm nicht helfen? O Licht, Rand!
Sie atmete noch einmal tief durch, um ruhiger zu werden. »Der einzige Weg, ihm zu helfen, ist, ihn einer Dämpfung zu unterziehen«, murmelte sie. »Aber da kann man ihn ja gleich umbringen.« Ihr Magen verknotete sich bei diesem Gedanken. »Das werde ich niemals machen. Niemals!«
Ein Rotkehlchen ließ sich auf einem Schlehenbusch in der Nähe nieder und hielt den Kopf schräg, um sie zu beobachten. Sie sprach den Vogel an: »Also, ich helfe niemandem damit, wenn ich hier herumstehe und Selbstgespräche führe, oder? Oder wenn ich mit dir rede.«
Das Rotkehlchen flog auf, als sie auf den Busch zutrat. Beim zweiten Schritt war es nur noch ein weghuschender Farbfleck, und beim dritten war es in einem Dickicht verschwunden.
Sie blieb stehen und holte den Steinring an seinem Riemen aus ihrem Kleid hervor. Warum veränderte es sich nicht? Alles hatte sich bisher so schnell verändert, daß sie kaum zum Atemholen gekommen war. Warum nicht jetzt? Gab es hier in der Umgebung eine Antwort auf diese Frage? Sie sah sich unsicher um. Die Blumen neckten sie, und die Lieder der Lerchen verspotteten sie. Dieser Ort schien zu sehr ihrer eigenen Sehnsucht zu entspringen.
Entschlossen festigte sie ihren Griff um den Ter'Angreal. »Bring mich dorthin, wo ich hin muß.« Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf den Ring. Er bestand schließlich aus Stein, und so sollte das Element Erde ihr ein Gefühl für ihn verleihen. »Mach schon. Bring mich dorthin, wo ich sein will.« Wieder rief sie Saidar herbei und ließ ein Rinnsal der Macht in den Ring hineinsickern. Sie wußte, daß er die Macht eigentlich nicht benötigte, um zu funktionieren, und so versuchte sie auch nicht, etwas Bestimmtes damit zu erreichen. Sie wollte ihm nur mehr Energie zuleiten. »Bring mich dorthin, wo ich eine Antwort finde. Ich muß wissen, was die Schwarzen Ajah vorhaben. Bring mich zu der Antwort.«
»Tatsächlich. Ihr habt also endlich den Weg gefunden, Kind. Hier gibt es alle möglichen Antworten.«
Egwene riß die Augen auf. Sie stand in einem großen Saal. Die riesige Kuppel wurde von einem wahren Wald massiver Sandsteinsäulen gestützt. Mitten in der Luft hing ein Schwert aus Kristall. Es glitzerte und funkelte und drehte sich langsam. Sie war nicht sicher, glaubte aber, es könne das Schwert sein, nach dem Rand in diesem Traum gegriffen hatte. Diesem anderen Traum. Das hier erschien alles so wirklich! Sie mußte sich immer selbst daran erinnern, daß auch dies nur ein Traum war.
Eine alte Frau trat aus dem Schatten einer der Säulen. Sie humpelte gebückt an einem Stock einher. Häßlich war gar kein Ausdruck für sie. Sie hatte ein knochiges, hervorstehendes Kinn, eine noch härtere, spitzere Nase, und es schien, als wüchsen mehr Haare aus ihren Warzen im Gesicht, als sie auf dem Kopf hatte.
»Wer seid Ihr?« fragte Egwene. Die einzigen Menschen, die sie bisher in Tel'aran'rhiod angetroffen hatte, kannte sie alle, aber sie glaubte nicht, daß sie diese arme alte Frau jemals vergessen hätte.
»Nur die arme alte Sylvie, Lady«, krächzte die alte Frau. Zur gleichen Zeit brachte sie eine Art von Bückling zustande, der ein Zwischending darstellte zwischen Knicks und unterwürfigem Kriechen. »Ihr kennt doch die arme alte Sylvie, Lady. Hat Euch all die Jahre hindurch treu gedient. Fürchtet Ihr Euch immer noch vor diesem alten Gesicht? Bitte nicht, Lady. Wenn ich es brauche, dient es mir genauso wie ein hübscheres.«
»Natürlich«, sagte Egwene. »Es ist ein starkes Gesicht. Ein gutes Gesicht.« Sie hoffte, die Frau würde das schlucken. Wer auch diese Sylvie war, sie schien jedenfalls zu glauben, sie kenne Egwene. Vielleicht kannte sie auch Antworten. »Sylvie, Ihr habt etwas davon gesagt, daß es hier Antworten gebe.«
»Ach, Ihr seid an den rechten Ort gekommen, wenn Ihr Antworten sucht, Lady. Das Herz des Steins ist voll von Antworten. Und Geheimnissen. Die Hochlords wären nicht gerade erfreut, wenn sie uns hier sähen, Lady. O nein. Nur die Hochlords kommen hier herein. Und Diener natürlich.« Sie lachte schlau und krächzend. »Die Hochlords fegen bestimmt nicht den Boden. Aber wer nimmt schon eine Dienerin wahr?«
»Welche Geheimnisse gibt es denn hier?«
Aber Sylvie humpelte auf das Kristallschwert zu. »Intrigen«, sagte sie mehr in sich selbst hinein. »Alle geben vor, dem Großlord zu dienen, und alle intrigieren und planen, das wiederzugewinnen, was sie verloren haben. Jeder glaubt, daß er oder sie der einzige ist, der hier Intrigen spinnt. Ishamael ist ein Narr!«
»Was?« fragte Egwene scharf. »Was habt Ihr da von Ishamael gesagt?«
Die alte Frau wandte sich um und lächelte schief, aber dankbar für die Ansprache. »Nur etwas, was die armen Leute so sagen, Lady. Es lenkt die Macht der Verlorenen ab, wenn man sie Narren nennt. Da fühlt man sich gut und sicher. Selbst der Schatten kann es nicht ertragen, ein Narr genannt zu werden. Versucht es auch, Lady. Sagt, Ba'alzamon sei ein Narr!«
Egwenes Lippen zuckten im Anflug eines Lächelns. »Ba'alzamon ist ein Narr! Ihr habt recht, Sylvie.« Es war tatsächlich ein gutes Gefühl, wenn man den Dunklen König verspottete. Die alte Frau schmunzelte. Das Schwert drehte sich langsam hinter ihrer Schulter. »Sylvie, was ist das?«
»Callandor, Lady. Davon wißt Ihr doch, oder? Das Schwert, Das Man Nicht Berühren Kann.« Plötzlich schwang sie ihren Stock nach hinten auf das Schwert zu. Einen Fuß vom Schwert entfernt schlug der Stock mit einem dumpfen Laut auf etwas Unsichtbares und prallte zurück. Sylvie grinste noch breiter. »Das Schwert, Das Kein Schwert Ist, obwohl verdammt wenige nur wissen, was es tatsächlich ist. Aber niemand außer einem kann es berühren. Diejenigen, die es hierherbrachten, haben dafür gesorgt. Eines Tages wird der Wiedergeborene Drache Callandor in der Hand halten und allein schon damit der Welt beweisen, daß er der Drache ist. Jedenfalls wird das der erste Beweis sein. Lews Therin, der zurückgekehrt ist, und alle können es sehen und vor ihm im Staub liegen. Ach, die Hochlords finden es nicht gut, daß es hier ist. Sie haben nicht gern etwas mit der Einen Macht zu tun. Wenn sie könnten, würden sie es gern loswerden. Was würde nicht einer der Verlorenen darum geben, Callandor in Händen zu halten!«
Egwene blickte das glitzernde Schwert an. Wenn die Prophezeiungen des Drachen stimmten und wenn Rand wirklich der Drache war, wie Moiraine behauptete, dann würde er es eines Tages benützen. Allerdings — den Prophezeiungen nach zu schließen, konnte das eigentlich gar nicht sein! Aber wenn es einen Weg gibt, es zu gewinnen, dann kennen ihn die Schwarzen Ajah vielleicht. Und wenn sie es wissen, kann ich es auch herausfinden.
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