Sie blickte auf ihr Kleid herunter und lachte entzückt. Es war haargenau ihre Lieblingsfarbe — himmelblaue Seide mit weißen Falten am Rock, die sich nach einem leichten Stirnrunzeln grün färbten. Bestickt war es mit Reihen winzigkleiner Perlen an den Ärmeln und am Busen. Sie steckte einen Fuß darunter hervor und sah die Spitze eines Samthausschuhs. Das einzige, was die Harmonie störte, war der verdrehte, vielfarbige Steinring, der an einem Lederband um ihrem Hals hing.
Sie nahm den Ring in die Hand und schnappte nach Luft. Er war plötzlich federleicht! Wenn sie ihn nach oben warf, würde er wie eine Daunenfeder vom Wind fortgetragen. Mit einem Mal hatte sie die Angst davor verloren. Sie steckte ihn in ihr Kleid, um ihn aus dem Weg zu haben.
»Also das ist Tel'aran'rhiod«, sagte sie. »Corianin Nedeals Welt der Träume. Sie wirkt nicht gefährlich auf mich.« Aber Verin hatte behauptet, sie sei gefährlich. Schwarze Ajah oder nicht, jedenfalls glaubte Egwene nicht, daß eine Aes Sedai bewußt lügen könne. Sie irrt sich vielleicht. Aber daran glaubte sie bei Verin auch nicht.
Nur um festzustellen, ob das klappte, öffnete sie sich der Einen Macht. Saidar erfüllte sie. Selbst hier war es gegenwärtig. Sie ergriff den Strom ganz leicht und vorsichtig, lenkte ihn in den Wind, wirbelte Schmetterlinge in flatternden Farbspiralen empor, trieb sie zu ineinander verschlungenen Ringen zusammen.
Plötzlich ließ sie die Macht fahren. Die Schmetterlingen kehrten auf ihre Blüten zurück. Offensichtlich hatte ihnen ihr kurzes Abenteuer nichts ausgemacht. Die Myrddraal und andere Abkömmlinge des Schattens konnten fühlen, wenn jemand die Macht benützte. Wenn sie sich umsah, konnte sie sich wohl solche Wesen an diesem Ort nicht vorstellen, aber ihr Mangel an Vorstellungsvermögen mußte ja nicht bedeuten, daß es hier keine gab. Und die Schwarzen Ajah hatten all diese Ter'Angreal, die Corianin Nedeal untersucht hatte. Das erinnerte sie auf unangenehme Weise an den Zweck ihres Hierseins.
»Wenigstens weiß ich nun, daß ich hier die Macht gebrauchen kann«, murmelte sie. »Aber ich erfahre nichts, wenn ich hier herumstehe. Ich sollte mich etwas umschauen... « Sie tat einen Schritt...
... und stand in der schalen Luft eines düsteren Ganges in einer Schenke. Sie war die Tochter eines Schankwirts — deshalb war sie sicher, daß es eine Schenke sein mußte. Es war aber kein Laut zu hören, und alle Türen zum Gang waren geschlossen. Als sie sich gerade fragte, wer wohl hinter der einfachen Holztür vor ihrer Nase hause, öffnete sie sich lautlos.
Das Zimmer dahinter war kahl. Kalter Wind seufzte in den offenen Fenstern und wirbelte die Asche auf dem Herd hoch. Ein großer Hund lag zusammengerollt auf dem Boden, den zerzausten Schwanz über die Schnauze gelegt. Er lag zwischen der Tür und einem dicken, roh behauenen Pfeiler aus schwarzem Stein in der Zimmermitte. Ein hochgewachsener junger Mann mit zerzaustem Haar saß in Unterwäsche vor der Säule und hatte sich daran gelehnt. Sein Kopf hing wie im Schlaf zur Seite. Eine massive, schwarze Kette spannte sich um den Pfeiler und um seine Brust. Er hatte ihre Enden in seinen Fäusten. Ob er nun schlief oder nicht: Seine mächtigen Muskeln waren angespannt, um die Kette straff zu halten und sich selbst an den Pfeiler zu fesseln.
»Perrin?« fragte sie staunend. Sie trat in das Zimmer. »Perrin, was ist denn los mit dir? Perrin!« Der Hund rührte sich und stand auf. Es war kein Hund, sondern ein Wolf, ganz schwarz und grau. Er zog die Lefzen hoch und zeigte schimmernde, weiße Zähne. Gelbe Augen betrachteten sie, als sei sie eine Maus. Eine Maus, die er fressen wollte.
Egwene trat unwillkürlich ganz schnell in den Gang zurück. »Perrin! Wach auf! Ein Wolf ist da!« Verin hatte behauptet, was hier geschehe, sei Wirklichkeit, und sie hatte zum Beweis ihre Narbe gezeigt. Die Zähne des Wolfs sahen so groß wie Messer aus.
»Perrin, wach auf! Sag ihm, daß ich ein Freund bin!« Sie berührte Saidar. Der Wolf schlich näher heran.
Perrins Kopf fuhr hoch, und seine Augen öffneten sich schläfrig. Nun wurde sie von zwei gelben Augenpaaren beobachtet. Der Körper des Wolfs straffte sich. »Springer«, rief Perrin, »nein! Egwene!«
Die Tür knallte vor ihrer Nase zu, und sie befand sich in totaler Dunkelheit.
Sie konnte nichts sehen, doch sie fühlte, wie auf ihrer Stirn Schweißtropfen standen. Und die rührten nicht von Hitze her. Licht, wo bin ich? Mir gefällt es hier nicht. Ich will aufwachen!
Ein Zirpen erklang, und Egwene fuhr erschrocken zusammen. Dann wurde ihr klar, daß die Ursache eine Grille war. Ein Frosch quakte laut in der Dunkelheit, und ein ganzer Chor antwortete ihm. Als sich ihre Augen langsam eingewöhnt hatten, konnte sie schattenhaft Bäume um sich herum erkennen. Wolken verdeckten die Sterne, und der Mond war nur eine hauchfeine Sichel.
Zu ihrer Rechten konnte sie zwischen den Bäumen ein flackerndes Glühen erkennen — ein Lagerfeuer.
Sie überlegte einen Moment lang, bevor sie sich in Bewegung setzte. Der bloße Wille, aufzuwachen, hatte nicht gereicht, um sie von Tel'aran'rhiod wegzuholen, aber etwas Nützliches hatte sie auch noch nicht herausgefunden. Allerdings hatte sie auch noch keinerlei Verletzung erlitten. Bis jetzt, dachte sie schaudernd. Aber sie hatte keine Ahnung, wer — oder was — dort am Lagerfeuer saß. Es könnte ein Myrddraal sein. Außerdem bin ich nicht gerade passend für den Wald angezogen. Dieser letzte Gedanke gab den Ausschlag. Sie war stolz darauf, daß sie selbst merkte, wenn sie sich dumm anstellte.
Sie atmete tief durch, raffte ihren Rock hoch und schlich näher heran. Sie hatte vielleicht nicht Nynaeves Geschick darin, doch sie war schlau genug, nicht auf herumliegende Äste zu treten. Schließlich spähte sie vorsichtig hinter dem Stamm einer alten Eiche hervor auf das Lagerfeuer.
Dort saß nur ein hochgewachsener junger Mann und starrte in die Flammen. Rand. Diese Flammen wurden nicht von Holz genährt. Es brannte dort überhaupt nichts Sichtbares. Das Feuer tanzte über einem Fleck kahlen Bodens. Sie glaubte nicht, daß es die darunterliegende Erde versengen würde.
Bevor sie sich auch nur rühren konnte, hob Rand den Kopf. Sie war überrascht, zu sehen, daß er Pfeife rauchte. Ein dünner Rauchfaden erhob sich aus dem Pfeifenkopf. Er wirkte müde, sehr müde.
»Wer ist dort?« fragte er laut. »Ihr habt genug mit Blättern geraschelt, um Tote aufzuwecken, also könnt Ihr genausogut herauskommen und Euch zeigen!«
Egwene preßte die Lippen zusammen, aber sie trat aus ihrer Deckung hervor. Habe ich nicht! »Ich bin es, Rand. Hab keine Angst. Es ist ein Traum. Ich muß mich in deinen Träumen befinden.«
Er war so plötzlich auf den Beinen, daß sie wie erstarrt stehenblieb. Irgendwie kam er ihr größer vor als in ihrer Erinnerung. Und ein wenig gefährlicher. Vielleicht sogar viel gefährlicher. Seine blaugrauen Augen schienen wie gefrorenes Feuer zu brennen.
»Glaubst du, ich wüßte nicht, daß es ein Traum ist?« höhnte er. »Ich weiß, daß alles dadurch nicht weniger wirklich wird.« Er blickte angestrengt in die Dunkelheit hinaus, als suche er nach jemandem. »Wie lange wirst du es noch versuchen?« schrie er in die Nacht hinein. »Wie viele Gesichter benützt du noch? Meine Mutter, meinen Vater und jetzt sie! Hübsche Mädchen können mich auch mit einem Kuß nicht in Versuchung bringen — noch nicht einmal eine, die ich kenne! Ich verweigere mich Euch, Vater der Lügen! Ich gebe nicht nach!«
»Rand«, sagte sie nervös, »ich bin es doch, Egwene. Ich bin wirklich Egwene.«
Plötzlich, wie aus dem Nichts gekommen, hielt er ein Schwert in der Hand. Die Klinge war aus einer einzigen Flamme geschmiedet, leicht gekrümmt und mit einem Reiher verziert. »Meine Mutter hat mir Honigkuchen gegeben, aber er roch nach Gift. Mein Vater hatte ein Messer in der Hand, das er mir in die Rippen rennen wollte. Sie... sie hat mir Küsse geboten und noch mehr.« Schweiß rann über sein Gesicht. Sein Blick schien zu reichen, um sich daran zu entzünden. »Und was bringst du mir?«
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