Zuerst schien es Egwene, als erwarte man in Darein wieder einen Krieg. Eine Einheit Pikeure marschierte durch die Straßen. Ihre Reihen wirkten wie eine Drahthaarbürste, so gespickt mit ihren langen Piken... Ihnen folgten Bogenschützen mit flachen, breitrandigen Helmen, an den Hüften prall gefüllte Köcher und die Bögen vor der Brust. Eine Schwadron gerüsteter Reiter mit geschlossenen Visieren machte Verin und ihrer Begleitung Platz, als ein Offizier sie mit einer im schweren Kampfhandschuh steckenden Hand beiseite winkte. Alle trugen die Weiße Flamme von Tar Valon wie eine Schneeträne auf der Brust.
Doch die Einwohner des Dorfs gingen offensichtlich unbeeindruckt ihren Geschäften nach. Die Menge auf dem Markt teilte sich so selbstverständlich vor den Soldaten, als seien die Marschierenden längst gewohnte Hindernisse. Ein paar Männer und Frauen mit obstbeladenen Verkaufsbrettern hielten mit den Soldaten Schritt und versuchten, deren Interesse an verschrumpelten Äpfeln und Pflaumen zu wecken, die den Winter durch eingekellert gewesen waren, doch von ihnen abgesehen beachteten die Hausierer und Ladenbesitzer die Soldaten gar nicht. Auch Verin schien sie zu ignorieren, während sie Egwene und die anderen durch das Dorf zu der großen Brücke hin führte, die sich wie eine aus Stein geklöppelte Spitzenborte über eine halbe Meile Wasser spannte.
Am Fuß der Brücke standen weitere Soldaten Wache: ein Dutzend Pikeure und halb so viele Bogenschützen, die jeden überprüften, der die Brücke überqueren wollte. Der Offizier, ein Mann mit lichtem Haar, der den Helm über den Griff seines Schwerts gehängt hatte, schien verärgert angesichts der langen Schlange wartender Fußgänger und Reiter, Pferdewagen, Ochsengespanne und Karren, die von ihren Eigentümern selbst gezogen wurden. Die Schlange war nur etwa hundert Schritt lang, doch jedesmal, wenn jemand auf die Brücke gelassen wurde, kam hinten jemand Neues dazu. Trotzdem nahm sich der alternde Offizier jedesmal Zeit, um sicherzugehen, daß jeder auch das Recht hatte, Tar Valon zu betreten. Erst dann ließ er den Wartenden gehen.
Er öffnete den Mund und wollte schon wütend werden, als Verin ihre Begleiter gleich ganz nach vorn führte, doch dann sah er ihr Gesicht und setzte sich eilig den Helm wieder auf. Keiner, der sie wirklich kannte, mußte erst den Schlangenring sehen, um eine Aes Sedai zu erkennen. »Guten Morgen, Aes Sedai«, sagte er mit einer Verbeugung, wobei er eine Hand auf sein Herz legte. »Guten Morgen. Reitet nur hinüber, wie es Euch gefällt.«
Verin hielt ihr Pferd neben ihm an. In der wartenden Schlange wurde Murren laut, doch keiner wagte, sich zu beschweren. »Probleme mit den Weißmänteln, Wächter?«
Warum halten wir an? fragte sich Egwene voller Unruhe. Hat sie Mat vergessen?
»Eigentlich nicht, Aes Sedai«, sagte der Offizier. »Keine Kampfhandlungen. Sie versuchten, nach Markt Eldone vorzudringen, auf der anderen Seite des Flusses, aber wir haben es ihnen verdorben. Die Amyrlin will jedoch sichergehen, daß sie es nicht noch einmal versuchen.«
»Verin Sedai«, begann Egwene vorsichtig. »Mat... «
»Nur einen Moment noch, Kind«, sagte die Aes Sedai und klang nur halb geistesabwesend dabei. »Ich habe ihn nicht vergessen.« Dann wandte sie sofort ihre Aufmerksamkeit wieder dem Offizier zu. »Und die Dörfer im weiteren Umkreis?«
Der Mann zuckte unangenehm berührt die Achseln. »Wir können die Weißmäntel nicht ganz davon abhalten, Aes Sedai. Sie ziehen sich zurück, wenn unsere Patrouillen kommen. Sie scheinen uns in die Irre führen zu wollen.« Verin nickte und wäre losgeritten, wenn der Offizier sie nicht noch einmal angesprochen hätte: »Verzeiht mir, Aes Sedai, aber Ihr kommt offensichtlich von weit her. Habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten? Mit jedem Handelsschiff kommen neue Gerüchte den Fluß herauf. Sie sagen, irgendwo im Westen gebe es einen neuen falschen Drachen. Also, sie behaupten sogar, daß Artur Falkenflügels Heer, das aus den Gräbern zurückgekehrt ist, ihm folgt und daß er eine Menge Weißmäntel getötet hat. Er soll auch eine Stadt zerstört haben — Falme wird sie wohl genannt —, behaupten manche. Das ist drunten in Tarabon.«
»Sie haben auch behauptet, daß Aes Sedai ihm halfen!« rief eine Männerstimme aus der wartenden Schlange. Hurin atmete tief durch und setzte sich zurecht, als erwarte er einen Gewaltausbruch. Egwene sah sich um, konnte aber nicht entdecken, wer das gerufen hatte. Alle schienen nur auf Warten eingestellt, geduldig oder ungeduldig, und wollten möglichst bald an der Reihe sein. Die Lage hatte sich geändert, und nicht zum Besten. Bevor sie Tar Valon verlassen hatten, hätte sich jeder glücklich geschätzt, der die Aes Sedai kritisierte, wenn er lediglich mit einer blutigen Nase davongekommen wäre. Mit hochrotem Gesicht blickte der Offizier die Wartenden an.
»Gerüchte entsprechen nur selten der Wahrheit«, sagte Verin zu ihm. »Ich kann Euch mitteilen, daß Falme immer noch steht. Und es liegt noch nicht einmal in Tarabon, Wächter. Hört weniger auf Gerüchte, sondern mehr auf den Amyrlin-Sitz. Das Licht leuchte Euch.« Sie hob die Zügel und er verbeugte sich, als sie die anderen an ihm vorbeiführte.
Die Brücke versetzte Egwene in Erstaunen, wie das die Brücken von Tar Valon immer taten. Die durchbrochenen Seitenwände waren so kunstvoll gearbeitet, daß sie auch die beste Handarbeiterin an ihrem Stickrahmen beschämten. Es schien kaum möglich zu sein, Stein so fein zu bearbeiten. Und dann war es unwahrscheinlich, daß die Brücke ihrem eigenen Gewicht standhalten konnte. Der Fluß strömte kräftig und gleichmäßig fünfzig Schritt oder mehr unter ihr dahin. Es gab keinen einzigen Pfeiler auf der halben Meile zwischen Ufer und Insel.
Auf gewisse Weise noch erstaunlicher war die Tatsache, daß sie das Gefühl hatte, die Brücke führe nach Hause. Erstaunlicher und erschreckender. Emondsfeld ist mein Zuhause. Aber in Tar Valon würde sie alles lernen, was sie zum Überleben können mußte, und um ihre Freiheit zu behalten. In Tar Valon würde sie erfahren — mußte sie erfahren —, warum ihre Träume so beunruhigend waren und warum sie gelegentlich Bedeutungen enthielten, die sie nicht enträtseln konnte. Ihr Leben war nun mit Tar Valon verknüpft. Falls sie je nach Emondsfeld zurückkehrte — das ›falls‹ tat weh, doch sie war ehrlich genug sich selbst gegenüber —, würde es ein Besuch sein, um ihre Eltern wiederzusehen. Sie hatte sich bereits weit von der Tochter eines Wirts wegentwickelt. Dieses Band würde sie nicht mehr fesseln, nicht, weil sie es haßte, sondern weil sie dem Dorf entwachsen war.
Die Brücke war nur der Anfang. Sie erstreckte sich bis an die Mauer, die die Insel umspannte: eine hohe, weiß schimmernde Mauer aus silbrig geädertem Stein, deren Krone auf die Höhe der Brücke hinabblickte. In Abständen wurde die Mauer von Wachttürmen unterbrochen, die aus dem gleichen weißen Stein bestanden und an deren Fuß der Fluß schäumte. Doch die Mauer wurde noch überragt von den echten Türmen von Tar Valon, den Türmen der Legende, spitzen Säulen und Flöten und Spiralen. Einige davon waren durch luftige Brücken miteinander verbunden, gute hundert Schritt oder mehr über dem Boden. Und trotzdem war auch das nur der Anfang.
An dem bronzebeschlagenen Tor standen keine Wächter, und die Flügel standen weit offen, so daß zwanzig Mann nebeneinander hätten hindurchreiten können. Dahinter erstreckte sich eine der breiten Alleen, die sich kreuz und quer über die Insel zogen. Der Frühling war wohl noch kaum voll ausgebrochen, doch in der Luft lag bereits ein Duft nach Blumen und Parfums und Gewürzen.
Die Stadt raubte Egwene den Atem, als habe sie sie noch nie zuvor gesehen. Jeder Platz und jede Straßenkreuzung wies einen Brunnen auf oder ein Denkmal oder ein Standbild. Einige davon standen auf turmhohen Sockeln. Doch es war die Stadt selbst, die aller Augen blendete. Was ganz einfach wirkte, konnte so viele Ornamente und Friese aufweisen, daß es selbst schon wie Zierat aussah, und was keine Verzierungen zeigte, wirkte durch seine Form grandios. Große und kleine Gebäude, aus Stein in allen überhaupt möglichen Farben erbaut... Manche sahen wie Muscheln aus oder wie Meereswogen, andere wieder wie vom Wind abgeschliffene Klippen, fließend und phantasievoll, aus der Natur entnommen oder aus dem Geist von Menschen entsprungen. Die Wohnhäuser, die Schenken, ja, sogar die Ställe — selbst das unbedeutendste Gebäude in Tar Valon war für das Auge erschaffen worden. Steinwerker der Ogier hatten den größten Teil der Stadt in den langen Jahren nach der Zerstörung der Welt erschaffen, und noch heute behaupteten sie, es sei ihre beste Arbeit überhaupt gewesen.
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