»Ich mache ein Wettrennen mit Euch über zehn Meilen«, sagte Aviendha, »und wir werden ja sehen, wer gewinnt, Euer Pferd oder ich.«
»Ich fordere Euch über zwanzig Meilen heraus!« rief Rhuarc lachend.
Egwene hielt ihre Angebote für ernstzunehmend, und als sie und die anderen ihre Pferde schneller dahintraben ließen, hatten die Aiel keinerlei Probleme, mitzuhalten.
Als die strohgedeckten Dächer von Jurene in Sicht kamen, sagte Rhuarc: »Lebt wohl, Aes Sedai. Möget Ihr immer Wasser und Schatten finden. Vielleicht treffen wir uns wieder, bevor die große Veränderung kommt.« Es klang ziemlich ernst. Als die Aiel nach Süden weiterliefen, hoben Aviendha und Chiad und Bain jede eine Hand zum Abschiedsgruß. Sie schienen nun, da sie nicht mehr neben den Pferden herlaufen mußten, sich keineswegs langsamer zu bewegen, eher sogar noch etwas schneller. Egwene vermutete, sie würden dieses Tempo solange beibehalten, bis sie ihr Ziel erreichten, was es auch sein mochte.
»Was hat er damit gemeint?« fragte sie. »Daß wir uns vielleicht wiedersehen, bevor die große Veränderung kommt?« Elayne schüttelte den Kopf.
»Es spielt keine Rolle, was er meinte«, sagte Nynaeve. »Ich bin froh, daß sie letzten Abend kamen, und ich bin auch froh, daß sie wieder weg sind. Ich hoffe, es ist ein Schiff da.«
Jurene selbst war ein kleiner Ort. Die Häuser waren aus Holz gebaut, und keines wies mehr als ein Stockwerk auf. Doch über allem flatterte die Flagge mit dem Weißen Löwen von Andor an einer langen Stange, und fünfzig Mann von der königlichen Garde hielten den Ort besetzt. Ihre roten Jacken mit den langen, weißen Revers leuchteten unter metallschimmernden Brustpanzern hervor. Man hatte sie an diesen Ort geschickt, sagte ihr Hauptmann, um Flüchtlingen in Richtung Andor eine sichere Zuflucht zu bieten. Aber es wurden täglich weniger. Die meisten flohen in Orte weiter flußabwärts in der Nähe von Aringill. Es sei gut, daß die drei Frauen zu diesem Zeitpunkt angekommen waren, denn er erwarte täglich den Befehl, mit seiner Kompanie nach Andor zurückzukehren. Wahrscheinlich würden die wenigen übriggebliebenen Einwohner Jurenes mit ihnen gehen und hier alles den Räubern und den Soldaten der kriegführenden Adelshäuser von Cairhien überlassen.
Elayne hielt ihr Gesicht unter der Kapuze ihres dicken, wollenen Umhangs verborgen, aber keiner der Soldaten schien das Mädchen mit dem rotgoldenen Haar irgendwie mit der Tochter-Erbin in Verbindung zu bringen. Ein paar fragten sie, ob sie nicht ein wenig bleiben wolle.
Egwene war nicht sicher, ob Elayne sich darüber freute oder schockiert war. Sie selbst erklärte den Männern, die mit ihr anbändeln wollten, daß sie keine Zeit für sie habe. Es war auf gewisse Art schon schmeichelhaft, so unverblümt gefragt zu werden. Sicher hatte sie nicht die Absicht, einen dieser Burschen zu küssen, aber es war nett, zu wissen, daß wenigstens ein paar Männer sie für ebenso hübsch hielten wie Elayne. Nynaeve versetzte einem der Männer eine schallende Ohrfeige. Egwene hätte beinahe gelacht, und Elayne lächelte ganz offen. Egwene glaubte, der Mann habe Nynaeve in den Po gekniffen, und obwohl sie wütend dreinblickte, wirkte ihr Blick keineswegs wirklich zornig, wenn man sie gut genug kannte.
Sie trugen ihre Ringe nicht. Es hatte Nynaeve nicht viel Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, daß der eine Ort, an dem sie ganz bestimmt nicht als Aes Sedai gelten wollten, natürlich Tear sein mußte, besonders wenn sich die Schwarzen Ajah dort aufhielten. Egwene hatte ihren Ring in die Börse zum steinernen Ter'Angreal gesteckt. Sie berührte den Beutel öfters, um sich zu vergewissern, daß sie noch da waren. Nynaeve hatte ihren an die Lederschnur zu dem Ring Lans gehängt und trug nun beide zwischen ihren Brüsten.
Es lag tatsächlich ein Schiff in Jurene an dem einzigen Steinkai vertäut, der sich hier in den Erinin erstreckte. Es war nicht das Schiff, das Aviendha gesehen hatte, wie es schien, aber es war immerhin doch ein Schiff. Egwene war enttäuscht, als sie es genauer ansah. Der Pelikan war doppelt so breit wie der Blaue Kranich und machte mit seinem abgerundeten, wuchtigen Bug seinem Namen absolut keine Ehre. Der Kapitän war übrigens genauso rundlich.
Dieser werte Geselle blinzelte Nynaeve an und kratzte sich hinter dem Ohr, als sie fragte, ob sein Schiff denn auch schnell sei. »Schnell? Ich habe eine volle Ladung von Edelholz aus Schienar und Teppichen aus Kandor. Warum sollte man mit einer solchen Ladung besondere Eile haben? Die Preise steigen doch ständig. Ja, ich denke, es gibt schnellere Schiffe, die nachkommen, aber sie legen hier nicht an. Ich hätte auch nicht hier angelegt, wenn ich nicht Würmer im Fleisch gefunden hätte. Dumme Idee, Fleisch nach Cairhien verkaufen zu wollen. Der Blaue Kranich? Ja, ich habe gesehen, daß Ellisor heute morgen ein Stück flußaufwärts an irgendwas festhing. Ich denke, er wird nicht so bald wieder freikommen. Aber das riskiert man halt mit einem schnellen Schiff.«
Nynaeve zahlte für ihre Passagen und noch mal doppelt soviel für die Pferde. Ihr Gesichtsausdruck war derart finster, daß Egwene und Elayne es erst lange nach dem Ablegen des Pelikan in Jurene wagten, sie wieder anzusprechen.
Mat lehnte an der Reling und sah zu, wie die ummauerte Stadt Aringill immer näher kam. Die Ruder trieben die Graue Möwe an die langen Anlegestege aus geteerten Balken heran. Hohe Steinmauern schoben sich davor in den Fluß hinaus, um die Anlegestellen zu schützen, auf denen sich die Menschen drängten. Viele verließen Schiffe aller Größenordnungen, die dort vertäut lagen. Einige der Menschen schoben Karren vor sich her oder zogen Schlitten oder hochrädrige Wagen mit aufgestapelten Möbelstücken und Truhen, die man darauf festgebunden hatte. Die meisten trugen aber nur kleine Bündel auf dem Rücken, wenn überhaupt etwas. Nicht alle von ihnen beeilten sich. Viele Männer und Frauen drängten sich ängstlich und unsicher zusammen, und Kinder klammerten sich an ihre Beine. Soldaten in roten Röcken und glänzenden Brustpanzern versuchten, sie dazu zu bewegen, die Stege zu verlassen und in die Stadt zu gehen, aber die meisten waren wohl zu verängstigt, um sich vom Fleck zu rühren.
Mat drehte sich um und hielt die Hand über seine Augen, damit er im Gegenlicht den Fluß sehen konnte, den sie nun verließen. Es herrschte hier mehr Leben auf dem Fluß als im Süden Tar Valons. Mindestens ein Dutzend Schiffe konnte er allein jetzt erkennen, von einer langen Jacht mit scharfem Bug und zwei dreieckigen Segeln, die flußaufwärts gegen die Strömung gute Fahrt machte, bis zu einem breiten Schiff mit quadratischen Segeln und stumpfem Bug, das schwerfällig von Norden heranschwankte.
Allerdings hatte fast die Hälfte aller Schiffe nichts mit dem Flußhandel zu tun. Zwei Leichter mit leerem Deck schoben sich langsam über den Fluß zu einem kleineren Ort am anderen Ufer, während drei weitere auf Aringill zuhielten, die Decks mit Menschen vollgepackt wie Fässer mit Fisch. Die Flagge, die über dieser anderen Stadt flatterte, lag im Schatten, obwohl die Sonne noch ungefähr um ihren eigenen Durchmesser über dem Horizont hing. Dieses Ufer gehörte zu Cairhien, aber er mußte die Flagge nicht erst sehen, um zu wissen, daß sich darauf der Weiße Löwe von Andor befand. In den wenigen andoranischen Dörfern, bei denen die Graue Möwe vorübergehend angelegt hatte, hatte es deswegen viel Gerede gegeben.
Er schüttelte den Kopf. Politik interessierte ihn nicht. Solange sie mir nicht wieder erzählen wollen, ich sei ein Bürger Andors, bloß weil irgendeine Landkarte darauf besteht. Seng mich, vielleicht wollen sie mich sogar dazu zwingen, in ihrer verfluchten Armee mitzumarschieren und zu kämpfen, falls sich diese Sache in Cairhien ausweitet. Befehlen gehorchen müssen! Licht! Schaudernd wandte er sich wieder Aringill zu. Barfüßige Besatzungsmitglieder der Grauen Möwe hielten schon die Leinen bereit, die sie anderen auf den Stegen zuwerfen würden.
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