»Scraan, höre meinen Ruf und vernichte Zerwas«, flüsterte der Inquisitor. Dann setzte er das goldene Mundstück des Hörns an seine Lippen und blies es mit aller Kraft.
Der Hornstoß erklang nur schwach. Marcian hatte kaum den Atem, das kostbare Instrument erklingen zu lassen. Beim zweiten Signal war sein Ton nur wenig lauter.
Zerwas hatte indessen den Kampf am anderen Ende des Flachdachs abgebrochen und sich in die Luft geschwungen.
Marcian sog die eisige Winterluft in seine schmerzenden Lungen. Gelang es ihm nicht, noch ein drittes Mal ins Horn zu stoßen, wäre alles vergebens gewesen. Schon fiel der Schatten des Vampirs auf ihn, da erklang das Horn ein weiteres Mal.
Eine wohlige Wärme durchflutete den Inquisitor. Im gleichen Moment packte ihn Zerwas.
»Das wirst du büßen! Glaubst du vielleicht, du könntest mich so aufhalten.«
Der Vampir riß ihm das schön geschwungene Instrument aus der Hand und zerdrückte es mit seinen Krallen.
Aus dem Hof war ein ehrfürchtiges Raunen zu hören.
»Seht nur, Praios gebärt ein Kind!« rief eine Frauenstimme.
Marcian blickte zum Himmel. Direkt neben dem Praiosgestirn war ein leuchtender Funke entstanden, der langsam größer wurde.
»Ein Wunder!«
Zerwas trat einen Schritt zurück und hob seine Klauenhand vor das Gesicht, als würde er geblendet.
Der leuchtende Funke war mittlerweile auf die Größe einer Hand angewachsen und schien immer näher zu kommen. Schließlich konnte man deutlich ein geflügeltes Wesen inmitten des Lichts erkennen.
»Praios ich danke dir. Vergib mir meine Verfehlungen. Ich wollte immer nur deinem Ruhme dienen«, betete Marcian.
Scraan kehrte zurück!
Zerwas hatte sich in die Luft geschwungen und flog dem Praiosboten entgegen.
Marcian faltete seine Hände über der Brust und blickte ehrfürchtig zum Himmel. » ... tilge alles Übel und bringe uns das Licht der Gerechtigkeit zurück, so daß die, die gefehlt haben nunmehr den rechten Weg erkennen mögen.«
Ein Schrei, fast wie der Ruf eines Adlers, doch ungleich majestätischer klang vom Himmel. Scraans Gestalt war nun deutlich zu erkennen. Seine Federn schienen aus reinem Licht zu bestehen. Mächtige Muskeln spannten sich unter seinem Löwenfell. Die ganze Erscheinung des Greifen spiegelte Stolz und die Gewißheit der Unbesiegbarkeit.
Dann trafen die beiden in der Luft aufeinander. Marcian konnte sehen, wie die Adlerfänge des Greifen ein Loch in die Flügel des Vampirs rissen. Doch auch Zerwas’ Schwert hatte sein Ziel gefunden. Es schnitt in die körperlose Lichtgestalt seines Gegners, und für einen Atemzug lang schien es dem Inquisitor, als sei die Aura des Greifen ein wenig blasser geworden. Die beiden Kontrahenten hatten nun einander passiert und zogen weite Bogen, um sich für den nächsten Angriff in eine günstige Ausgangsposition zu bringen. Zerwas schwankte ein wenig im Flug. Deutlich konnte man ein schwarz gerändertes, mehr als faustgroßes Loch sehen, das in seine linke Schwinge gebrannt war. Scraan war es gelungen, weiter in den Himmel zu steigen, und nun stieß er, das Praiosgestirn im Rücken, erneut auf den Vampir herab. Diesmal schlugen seine Krallen in den Leib des Vampirs, und ein gellender Schrei hallte durch den Himmel. Dennoch war es auch Zerwas gelungen, einen Schlag zu landen. Er hatte sein Schwert durch die Brust der Lichtgestalt gerammt. Beide stürzten sich aufeinander und schienen zu Boden zu gleiten.
Erst kurz über dem Wasser der Breite trennten sich die zwei.
Diesmal war Zerwas es, der steil in den Himmel emporstieg. Unterdessen verschwand der Greif zwischen den Rauchschwaden über dem Fluß.
Während der Vampir weite Kreise am Himmel zog und nach seinem Gegner suchte, begannen die Flammen auf dem Fluß zu erlöschen. Als Rauch und Dunst sich gehoben hatten, konnte man erkennen, daß mindestens zehn Flußschiffe völlig ausgebrannt waren. Dem größeren Teil der Flotte aber war es gelungen, dem Feuer zu entkommen. Jetzt, wo sie die glühende Lohe nicht mehr mit der Strömung einholen konnte, waren diese Schiffe gerettet.
Weit im Süden stieg der Greif aus den öligen Rauchschwaden zum Himmel empor. Seine Aureole war fast verschwunden, so als habe ihn das Wunder, das er vollbrachte all seine Kraft gekostet.
Die Flügel angelegt stieß Zerwas vom Himmel herab, um Scraan erneut zu attackieren. Doch dem Greifen gelang es auszuweichen. Mit machtvollen Flügelschlägen gewann er an Höhe.
Der Vampir war indessen einen weiten Bogen geflogen und folgte dem Götterboten. Beide verschwanden in den dichten Rauchwolken, die immer weiter in den Himmel stiegen.
Zwei Schreie erklangen. Ein grelles Licht erschien für einen Augenblick inmitten der Rauchwolke. Dann herrschte unheimliche Stille über dem Schlachtfeld.
Marcian kniete noch immer auf dem Dach und betete.
Oberst von Blautann kam humpelnd zu ihm herüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. Schweigend starrten beide in den Himmel. Der Südwind trieb langsam die Rauchwolken auseinander.
Die Bogenschützen der Orks hatten es aufgegeben, entlang des Ufers der Flotte zu folgen, und zogen sich in das hügelige Hinterland zurück. Schiff um Schiff des langgezogenen Konvois verschwand am Horizont.
»Es ist vorbei«, flüsterte von Blautann.
Lysandra keuchte erschöpft. Vor ihr lag eine zerklüftete Eislandschaft. Sie hatte das Ufer des zugefrorenen Neunaugensees erreicht. Seit Sonnenaufgang war sie durch das Sumpfgebiet am Ostufer des großen Sees geirrt. Die verschneiten, hohen Schilfbündel hatten ihr dabei Deckung vor ihren Verfolgern geboten. Doch jetzt war sie fast eingekreist. Überall hinter ihr tauchten die Schatten der Orkreiter zwischen dem Schilf auf. Nur der Fluchtweg auf den See war noch offen. Doch wie weit mochte das Eis sie tragen? Nein, sie würde den Schwarzpelzen Xarvlesh nicht überlassen. Eher wollte sie die Waffe in den bodenlosen Tiefen des Sees versenken. Vielleicht würden die Orks es ja auch nicht wagen, ihr auf dieses verfluchte Gewässer zu folgen.
Lysandra begann wieder zu laufen.
»Steh!« erklang hinter ihr eine Stimme.
Im Laufen drehte sich die Amazone um. Ein hochgewachsener Ork auf einem schwarzen Pony hatte das Ufer erreicht. Ein Amulett blinkte golden auf seiner Brust.
»Komm zurück!«
Der Krieger hatte seine Faust um das Amulett gelegt. Seine Worte waren seltsam eindringlich. Nur mühsam gelang es Lysandra, ihren Blick von ihm zu lösen. Jeder Schritt fiel ihr schwerer. Es schien, als hielte sie eine fremde Macht gefangen und wollte sie dazu zwingen, ans Ufer zurückzukehren.
»Komm!« ertönte wieder die befehlsgewohnte, rauhe Stimme.
»Gib auf«, wisperte auch der unselige Geist, der immer um sie gewesen war, seitdem sie ihre Gefährten erschlagen hatte. »Du hast verloren, wie ich es dir gesagt habe. Gib auf und wähle einen leichten Tod.«
Lysandra faßte Xarvlesh fester. Der dunkle Streitkolben mit seinen langen, roten Dornen, die wie von innen zu glühen schienen, verlieh ihr neue Kraft. Sie brauchte ihn nur anzuschauen, und alle Müdigkeit wich von ihr. In den letzten zwei Tagen hatte sie nicht eine Stunde geschlafen. Doch wann immer sie das Glühen der Dornen betrachtete, fühlte sie sich erfrischt. Sogar die Stimme des Geistes verschwand dann. Sie würde es den elenden Schwarzpelzen schon zeigen. Sie würde nach Yeshinna gehen, und wenn ihre Gefährtinnen erst einmal Tairach folgten, dann würde es nicht lange dauern, bis die Orks vom Antlitz Deres getilgt waren.
Lysandra erschrak. Was hatte sie da gedacht? Sie wollte die Amazonen auf Burg Yeshinna zu Tairach bekehren? Das mußte die Schwäche sein. Sie verwirrte ihre Sinne. Sie würde Xarvlesh in den Rondra-Tempel von Yeshinna bringen. Dort wäre die verfluchte Waffe für immer vor den Orks sicher.
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