Gerade als er beschloß, seine Suche nach Feuerholz einzustellen und zum Flußufer zurückzukehren, fiel sein Blick auf das Haus. Es war eher eine Hütte, und bei genauerer Betrachtung nicht einmal das. Sie war überwuchert von Unkraut, Reben und Buschwerk. Fensterläden lagen auf dem Boden, und das Dach war eingedrückt. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, und die Eingangstür stand offen. Die Hütte stand am Rand einer kleinen Bucht; dem abgestandenen Wasser entströmte ein ekelhafter Geruch.
Par hätte die Hütte für unbewohnt gehalten, hätte er nicht die winzigen Rauchschwaden bemerkt, die aus dem verfallenen Schornstein stiegen. Er fragte sich, wie ein Mensch in einer solchen Umgebung hausen konnte, ob die Hütte wirklich bewohnt oder der Rauch lediglich das letzte Zeichen möglicher Bewohner war. Des weiteren fragte er sich, ob der Bewohner der Hütte möglicherweise Hilfe brauchte.
Fast wollte er hingehen, aber die Hütte und ihre Umgebung waren so abschreckend, daß er es schließlich doch nicht über sich brachte. Statt dessen rief er seine Frage, ob jemand zu Hause sei, laut hinaus. Er wartete einen Augenblick, dann rief er nochmals. Als er keine Antwort erhielt, wandte er sich fast dankbar ab und setzte seinen Weg fort.
Als er zurückkehrte, wartete Coll bereits mit dem Fisch, so daß sie eilig ein Feuer anzündeten und ihre Mahlzeit zubereiteten. Beide waren des Fisches schon überdrüssig, aber er war besser als nichts, und außerdem waren sie hungriger, als sie geahnt hatten. Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, saßen sie nebeneinander und beobachteten, wie die Sonne unterging und der See sich wieder silbrig verfärbte. Am dunkler werdenden Himmel zogen Sterne auf, und die Geräusche der Nacht erwachten aus der Stille der Dunkelheit. Die Schatten der Bäume des Waldes vereinigten sich zu dunklen Flecken, die das Tageslicht vollends verdrängten.
Par dachte gerade darüber nach, wie er Coll beibringen sollte, daß er es für besser hielt, nicht nach Hause zurückzukehren, als die Waldfrau vor ihnen auftauchte.
Sie trat aus dem Dunkel der Bäume hervor, gebückt im fahlen Licht des Feuers. Sie war in Lumpen gekleidet, und es hatte den Anschein, als wären sie in grauer Vorzeit um sie geschlungen und dort vergessen worden. Ihr Kopf war kahl, und ihr Gesicht war bedeckt mit langen, dichten, farblosen Haarbüscheln. Ihr Alter war unbestimmbar, dachte Par; sie war so runzlig, daß man es beim besten Willen nicht erraten konnte.
Sie kroch vorsichtig aus dem Wald hervor, blieb vor dem Feuer stehen und stützte sich schwer auf ihren Gehstock. Einer ihrer knochigen Arme zeigte in Richtung Par. »Hast du mich gerufen?« fragte sie mit einer Stimme, die wie morsches Holz knarrte.
Unwillkürlich mußte Par sie anstarren. Sie sah aus wie etwas, das der Erde entsprungen war, wie etwas, das kein Recht hatte, zu leben und die Erde zu betreten. Sie war über und über mit Schmutz und Unkraut behangen, das sich scheinbar auf ihr niedergelassen und Wurzeln geschlagen hatte.
»Warst du es?« wiederholte sie eindringlich.
Ihm wurde langsam klar, worauf sie anspielte. »An der Hütte? Ja, das war ich.«
Die Waldfrau lächelte, ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, ihr Mund war fast zahnlos. »Du hättest hereinkommen sollen, anstatt draußen stehenzubleiben«, sagte sie. »Die Tür war offen.«
»Ich wollte nicht…«
»Ich lasse sie immer offen, damit keiner ohne einen Willkommensgruß vorbeigeht. Auch das Feuer lasse ich immer brennen.«
»Ich habe den Rauch gesehen, aber…«
»Du hast doch Holz gesammelt, stimmt’s? Ihr kommt aus Callahorn?« Ihre Augen wanderten in die Richtung, in der das Boot festgemacht war. »Seid lang unterwegs gewesen, stimmt’s?« Ihr Blick richtete sich wieder auf die Brüder. »Seid vielleicht auf der Flucht?«
Par wurde mit einemmal ganz starr. Er und Coll warfen sich einen kurzen Blick zu.
Die Frau kam näher, und während sie einen Fuß vor den anderen setzte, tastete sie die Erde vor sich mit ihrem Gehstock ab. »Viele verschlägt es hierher. Kommen alle aus dem geächteten Land und sind auf der Suche nach diesem oder jenem.« Sie hielt inne. »Ihr vielleicht auch? O ja, viele möchten mit solchen wie euch nichts zu tun haben, aber ich gehöre nicht zu denen. Nein, ich bestimmt nicht!«
»Wir sind nicht auf der Flucht«, erklärte Coll plötzlich.
»Nein? Seid ihr deshalb so gut ausgerüstet?« Sie fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. »Wie heißt ihr?«
»Was willst du?« fragte Par hastig. Er fühlte sich von Minute zu Minute unwohler.
Die Waldfrau trat noch einen Schritt näher. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr, etwas, das Par vorher nicht bemerkt hatte. Sie schien keinen festen Körper zu besitzen, sondern wie durch Rauch oder erhitzte Luft hindurch zu flimmern. Auch ihre Bewegungen waren unnatürlich, und das nicht nur aufgrund ihres Alters. Es schien, als baumelten ihre Gelenke an einem unsichtbaren Faden, wie Marionetten, die auf Jahrmärkten gezeigt werden.
Der Geruch des sumpfigen Wassers und der zerfallenen Hütte haftete der Waldfrau selbst hier an. Sie schnupperte in der Luft. »Was rieche ich da?« Ihre Augen fixierten Par. »Riecht es hier nicht nach Magie?«
Par lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wer immer diese Frau sein mochte, mit ihr wollten sie nichts zu tun haben.
»Magie! Ja. Rein und klar und stark wie das Leben!« Die Zunge der Waldfrau fuhr lüstern über ihre Lippen. »Und so süß wie Blut!«
Nun konnte sich Coll nicht länger zurückhalten. »Es wäre besser, wenn du dich auf den Weg dorthin machen würdest, wo du hergekommen bist«, schrie er sie an, ohne daß er versucht hätte, seinen Abscheu zu verbergen. »Du hast hier nichts zu suchen. Mach, daß du fortkommst!«
Doch die Waldfrau bewegte sich nicht von der Stelle. Ihr Gesicht verzog sich zu einer wilden Grimasse, und ihre Augen waren plötzlich so rot wie die brennenden Holzscheite. »Komm her zu mir, komm her!« zischte sie. »Komm her, mein Kleiner!« Sie zeigte auf Par. »Komm!« Sie streckte eine Hand aus.
Par und Coll traten vorsichtig einen Schritt zurück, weg vom Feuer.
Die Frau machte mehrere Schritte auf sie zu, am Feuer vorbei, und drängte sie weiter in die Dunkelheit hinein. »Mein Süßer!« murmelte sie leise vor sich hin. »Laß mich dich schmecken, Kleiner!«
Die Brüder waren nicht mehr gewillt, sich noch weiter vom Licht zu entfernen. Die Waldfrau bemerkte den entschlossenen Ausdruck in ihren Augen, und ihr Lächeln wurde boshaft. Sie kam weiter auf sie zu.
Während sie Par im Auge behielt, der versuchte, sie zu packen und ihre Arme festzuhalten, machte Coll einen Satz auf sie zu. Aber sie war viel schneller als er. Ihr Stock, der auf ihn niedersauste, traf ihn mit einer solchen Wucht an der Schläfe, daß er ohnmächtig zu Boden sank. Mit einem Heulen, das an ein tollwütiges Tier erinnerte, war sie augenblicklich über ihm.
Par stimmte das Wunschlied an, mit Hilfe dessen er eine Reihe von schrecklichen Bildern zu ihr aussandte. Überrascht wich sie zurück, versuchte jedoch, die Bilder mit ihren Händen und ihrem Stock abzuwehren. Par nutzte die Gelegenheit, sich zu Coll umzudrehen und ihm auf die Beine zu helfen. Hastig zog er seinen Bruder von seiner Angreiferin weg, die ihre Krallen jetzt in die leere Luft streckte.
Die Waldfrau hielt plötzlich inne und schien sich nicht mehr gegen die Bilder zu wehren. Das Lächeln, mit dem sie sich jetzt zu Par umdrehte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Um ihr Angst zu machen, schickte Par ihr das Bild eines Dämons, doch diesmal griff die Frau nach dem Bild, öffnete den Mund, sog die Luft um sich herum tief ein, und das Bild löste sich in nichts auf. Die Frau leckte ihre Lippen und winselte.
Nun schickte Par ihr einen bewaffneten Krieger. Die Waldfrau verschlang ihn gierig. Sie kam wieder näher, ließ sich jetzt durch die Bilder nicht mehr aufhalten, schien sie sogar freudig zu erwarten. Es hatte den Anschein, als warte sie nur darauf, sie zu verschlingen. Par versuchte Coll zu stützen, doch sein Bruder sank immer noch benommen in seinen Armen zusammen. »Coll, wach auf!« flehte er leise.
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