Der Anblick war ein Alptraum, der Par und Coll Ohmsford mit einem solchen Entsetzen erfaßte, daß sie glaubten, selbst am Ort des Geschehens zu sein und daß die Schreie, die aus den Kehlen der gequälten Menschen drangen, ihre eigenen seien.
Dann verblaßte das Bild, und sie saßen wieder am Feuer. Der alte Mann beobachtete sie mit Adleraugen.
»Das war ein Teil meines Traums«, flüsterte Par.
»Das war die Zukunft«, erwiderte der alte Mann.
»Oder ein Trick«, murmelte Coll, den seine Furcht gelähmt hatte.
Der durchbohrende Blick des alten Mannes war auf sie gerichtet. »Die Zukunft ist so lange ein sich ständig verändernder Irrgarten von Möglichkeiten, bis sie zur Gegenwart wird. Die Zukunft, die ich euch heute abend vor Augen geführt habe, ist noch nicht festgelegt. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Zukunft genau so aussehen wird, wächst mit jedem Tag, der vergeht, an dem nichts unternommen wird, um das Übel abzuwenden. Wenn ihr sie verändern wollt, tut, wie ich euch geheißen habe. Geht zu Allanon! Hört auf das, was er euch sagt!«
Coll antwortete nichts, aus seinen Augen sprach noch immer Zweifel.
»Sag uns, wer du bist«, sagte Par leise.
Der alte Mann drehte sich zu ihm um, ließ seinen Blick kurz auf ihm ruhen, wandte sich dann von ihm ab und starrte in die Dunkelheit hinaus, so als ob es dort Welten gäbe, die nur er zu sehen vermochte. Schließlich sah er sie wieder an und nickte. »Nun gut, ich habe einen Namen, den ihr beide schnell genug wiedererkennen solltet. Ich heiße Cogline.«
Einen Augenblick schwiegen Par und Coll. Dann fingen sie gleichzeitig an zu sprechen.
»Cogline, der gleiche Cogline, der im Ostland gelebt hat mit…?«
»Meinst du den gleichen Mann, der Kimber Boh…?«
Er unterbrach sie ungeduldig. »Ja, ja. Wie viele Coglines kann es denn schon geben!« Er runzelte die Stirn, als er den Ausdruck auf ihren Gesichtern bemerkte. »Ihr glaubt mir wohl nicht, was?«
Par atmete tief ein. »Cogline war schon zu Zeiten Brin Ohmsfords ein alter Mann. Das war vor dreihundert Jahren.«
Ganz unerwartet lachte der andere. »Ein alter Mann! Was weißt du schon von alten Männern, Par Ohmsford? Tatsache ist, daß du keinen blassen Schimmer hast!« Er lachte und schüttelte dann den Kopf. »Hör zu. Allanon hat fünfhundert Jahre gelebt, bevor er starb! Das stellst du doch nicht in Frage, oder? Ich glaube nicht, da du ja die Geschichte so bereitwillig erzählst! Was ist also so erstaunlich daran, daß ich seit dreihundert Jahren lebe?« Er hielt inne, und der Ausdruck in seinen Augen war überraschenderweise schelmisch. »Meine Güte, was hättest du erst gesagt, wenn ich dir erzählt hätte, daß ich tatsächlich schon sehr viel länger lebe?« Mit einer Handbewegung tat er die Ant-wort ab. »Nein, laß nur, bemüh dich nicht. Beantworte mir statt dessen folgende Frage. Was weißt du über mich? Über den Cogline aus deinen Geschichten? Sag’s mir.«
Verwirrt schüttelte Par den Kopf. »Daß er ein Einsiedler war und mit seiner Enkelin Kimber Boh im Wildewald gelebt hat.
Daß meine Vorfahrin Brin Ohmsford und ihr Gefährte Rone Leah ihn gefunden haben, als sie…«
»Ja, ja, aber was weißt du über ihn? Denk doch darüber nach, wie du mich jetzt kennengelernt hast.«
Par hob die Schultern. »Daß er Pulver benutzte, das explodierte. Daß er sich mit den alten Wissenschaften beschäftigte.« Er erinnerte sich jetzt an die Einzelheiten aus den Geschichten über Cogline, und während sie ihm durch den Sinn gingen, mußte er zugeben, daß die Behauptungen des alten Mannes vielleicht doch nicht so weit hergeholt waren. »Er verfügte über die verschiedensten Zauberkräfte, über all die, die die Druiden gehabt hatten. Du meine Güte! Wenn du Cogline bist, mußt du immer noch über die Zauberkräfte verfügen. Stimmt’s? Ist deine Magie der meinen ähnlich?«
Coll blickte plötzlich sorgenvoll drein. »Par!«
»Wie deine?« fragte der alte Mann schnell. »Magie wie im Wunschlied? Nie und nimmer! Keinesfalls so unberechenbar wie die! Daran hat die Magie der Druiden und Elfen schon immer gekrankt – daß sie so unberechenbar war! Die Zauberkraft, über die ich verfüge, basiert auf Wissenschaften und wurde in jahrelanger Praxis erprobt. Sie wirkt nicht aus eigenem Antrieb; sie entwickelt sich nicht wie lebendige Materie!« Mit einem grimmigen Lächeln auf seinem alten Gesicht hielt er inne. »Aber andererseits muß ich zugeben, daß meine Zauberkraft nicht singen kann.«
»Bist du wirklich Cogline?« fragte Par leise, wobei seine Stimme sein Staunen verriet.
»Ja«, flüsterte der alte Mann. »Ja, Par.« Er drehte sich geschwind zu Coll um, der im Begriff war, ihn zu unterbrechen, und legte einen schmalen, knochigen Finger auf seine Lippen. »Pst, junger Ohmsford, ich weiß, daß du mir immer noch nicht glaubst, und dein Bruder auch nicht, aber hört mir einen Augenblick zu. Ihr seid Kinder aus dem Elfenhaus von Shannara. Es waren ihrer nicht viele, und immer wurden hohe Erwartungen an sie gestellt. Ich glaube, man wird euch das Gleiche abverlangen. Vielleicht sogar noch mehr. Es ist mir nicht gestattet, in die Zukunft zu schauen. Wie ich euch schon sagte, bin ich nur ein Bote, und nicht einmal ein besonders guter. Ein unfreiwilliger Bote, um die Wahrheit zu sagen. Aber ich bin der einzige, der Allanon geblieben ist.«
»Aber warum gerade du?« warf Par ein, und sein schmales Gesicht hatte jetzt einen sorgenvollen Ausdruck.
Der alte Mann zögerte. Es herrschte eine Totenstille, als er zu sprechen begann. »Weil ich irgendwann einmal ein Druide war, aber das ist so lange her, daß ich mich kaum noch daran erinnere. Ich studierte die Gesetze der Magie und die Gesetze der alten Wissenschaften und entschied mich für die letzteren. Ich habe damit jeglichen Anspruch auf die ersteren aufgegeben. Allanon kannte mich, oder besser gesagt, er hatte von mir gehört, und erinnerte sich an mich. Nein, wartet. Ich habe ein bißchen übertrieben, als ich sagte, ich sei ein Druide gewesen. Das stimmt nicht, denn ich war lediglich ein Schüler. Aber Allanon hat sich trotzdem an mich erinnert. Als er mich aufsuchte, sprach er zu mir von Druide zu Druide, obwohl ich zugeben muß, daß er nicht viel gesagt hat. Er hat niemanden außer mir, der das, was getan werden muß, tun könnte, das heißt, dich und die anderen aufzusuchen und sie von der Richtigkeit der Träume zu überzeugen. Ihr habt die Träume inzwischen alle geträumt – Wren und Walker Boh und du. Ihr habt alle erfahren, welche Gefahren die Zukunft in sich birgt. Aber keiner hat reagiert. Deshalb hat er mich geschickt.«
Mit einem Blinzeln versuchte er die Erinnerung zu verscheuchen. »Ich war einst ein Druide, und ich übe die Magie der Druiden auch heute noch aus. Keiner hat davon gewußt. Weder meine Enkelin Kimber noch eure Vorfahren, überhaupt niemand. Wißt ihr, ich habe viele verschiedene Leben gelebt. Der Cogline, der Brin Ohmsford zum Maelmord begleitet hat, war Cogline der Einsiedler, ein halber Wahnsinniger und ein halber Krüppel, der immer seine magischen Pulver mit sich herumtrug, in die allerhand seltsames Zeug gemischt war. Das war ich damals; das war der Mensch, zu dem ich mich entwickelt hatte. Ich habe danach jahrelang gebraucht, noch lange nach dem Tod von Kimber, bis ich wieder in der Lage war, wieder wie ich selbst zu handeln und zu sprechen.«
Er seufzte. »Der Druidenschlaf hat mich am Leben erhalten. Ich kannte das Geheimnis; ich hatte es mir angeeignet, bevor ich die Druiden verließ. Es gab oftmals Zeiten, in denen ich keinen Gebrauch davon machen wollte, sondern bereit war, mich dem Tod auszuliefern, anstatt mich ans Leben zu klammern. Aber irgend etwas hat mich davon abgehalten, und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, könnte es sehr wohl Allanon gewesen sein, der aus seinem Grab heraus dafür gesorgt hat, daß die Druiden nach seinem Tod wenigstens einen Sprecher hatten.«
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