Nur Kahlan war der Sprache der Schlammenschen mächtig, und bei den Schlammenschen sprach allein Chandalen die ihre. Er lauschte aufmerksam, als seine Männer berichteten, die Nacht sei, nachdem sie ihre Posten eingenommen hätten, ruhig gewesen. Sie waren die dritte Wache.
Einer der jüngeren Posten, Juni, ahmte schließlich mimisch das Einlegen eines Pfeils und das Spannen der Sehne bis zur Wange nach, wobei er rasch erst in die eine, dann in die andere Richtung zielte, erklärte dann aber, er habe das Tier nicht erkennen können, das über die Hühner in ihrem Dorf hergefallen sei. Er demonstrierte, wie er den Angreifer mit abstoßenden Namen beschimpft und voller Verachtung auf seine Ehre gespien habe und wie er ihn durch die Beschimpfung dazu habe bringen wollen, sich zu zeigen, wenn auch vergeblich. Richard quittierte Chandalens Übersetzung mit einem Nicken.
Chandalen hatte nicht alle Worte Junis übersetzt. Die Entschuldigung des Mannes hatte er weggelassen. Für einen Jäger – und ganz besonders für einen von Chandalens Männern – galt es als Schande, wenn ihm auf Wache etwas entging. Kahlan wußte, Chandalen würde später noch ein Wörtchen mit Juni zu reden haben.
Sie wollten sich gerade wieder auf den Weg machen, als der Vogelmann von einer der offenen Pfahlkonstruktionen zu ihnen herübersah. Als Anführer der sechs Ältesten und damit der Schlammenschen hatte der Vogelmann die Trauungszeremonie durchgeführt.
Es wäre unhöflich gewesen, ihn nicht zu begrüßen und sich bei ihm zu bedanken, bevor sie zu den Quellen aufbrachen. Richard hatte offenbar denselben Gedanken, denn er wandte sich in Richtung der grasbedachten Plattform, auf der der Vogelmann kauerte.
In der Nähe spielten Kinder. Einige Frauen in roten, blauen und braunen Kleidern schlenderten schwatzend vorbei. Ein paar braune Ziegen suchten den Boden nach fallengelassenen Essensresten ab. Sie schienen bescheidenen Erfolg damit zu haben – sofern es ihnen gelang, sich von den Kindern loszureißen. Einige Hühner pickten im Staub herum, während andere gackernd umherstaksten.
Auf dem freien Platz brannten in einiger Entfernung noch immer die Freudenfeuer, von denen die meisten jedoch mittlerweile kaum mehr als glühende Asche waren. Noch immer drängten sich die Menschen, verzückt entweder von der Glut oder von der Wärme, dicht um sie. Freudenfeuer waren ein seltener Luxus, sie symbolisierten eine freudige Feier oder eine Versammlung, bei der die Ahnenseelen herbeigerufen und mit Wärme und Licht willkommen geheißen wurden. Manch einer war bestimmt die ganze Nacht aufgeblieben, um sich das Spektakel der Feuer nicht entgehen zu lassen. Ganz besonders für die Kinder waren die Freudenfeuer eine Quelle des Staunens und der Freude.
Zur Feier hatte jeder seine allerbeste Kleidung angelegt, und noch immer trugen alle ihren Putz, denn offiziell dauerte die Feier bis zum Sonnenuntergang. Männer in feinen Fellen und Häuten führten stolz ihre besten Waffen vor, Frauen trugen leuchtend bunte Kleider und Metallarmreifen und im Gesicht ein breites Lächeln.
Gewöhnlich waren die jungen Leute geradezu peinlich schüchtern, die Hochzeit jedoch hatte sie mutig gemacht. Am Abend zuvor hatten kichernde junge Frauen Kahlan mit beherzten Fragen überschüttet, die jungen Männer dagegen waren Richard überallhin gefolgt, gaben sich aber damit zufrieden, ihm zuzulächeln und einfach immer in der Nähe der wichtigen Ereignisse sein zu können.
Der Vogelmann war mit seiner Wildlederhose und -jacke bekleidet, die er stets zu tragen schien, ganz gleich zu welchem Anlaß. Sein langes, silbergraues Haar reichte bis auf die Schultern. An einem Lederriemen um seinen Hals hing die allgegenwärtige Knochenpfeife für das Herbeirufen der Vögel; mit seiner Pfeife vermochte er scheinbar mühelos jede gewünschte Vogelart herbeizurufen, meist ließen sie sich dann auf seinem ausgestreckten Arm nieder und blieben dort zufrieden sitzen. Dieses Schauspiel erfüllte Richard stets mit Ehrfurcht.
Kahlan wußte, der Vogelmann verstand die Zeichen der Vögel und vertraute auf sie. Sie vermutete, daß er mit seiner Pfeife Vögel herbeirief, um festzustellen, ob sie ein Zeichen von sich gaben, das nur er allein zu ergründen vermochte. Darüber hinaus war der Vogelmann ein scharfsichtiger Deuter der von Menschen ausgesandten Zeichen. Manchmal hatte sie den Eindruck, er könne ihre Gedanken lesen.
Viele Menschen in den großen Städten der Midlands hielten die Völker in der Wildnis – wie etwa die Schlammenschen – für Wilde, die eigenartige Götzen anbeteten und an einfältigen Glaubensvorstellungen festhielten. Kahlan dagegen verstand die einfache Weisheit dieser Menschen und ihre Fähigkeit, die kaum wahrnehmbaren Zeichen der Lebewesen aus der ihnen so vertrauten Umwelt zu deuten. Oft hatte sie erlebt, daß die Schlammenschen das Wetter für die nächsten Tage mit recht hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagten, indem sie die Art der Grasbewegungen im Wind beobachteten.
Zwei der Dorfältesten, Hajanlet und Arbrin, saßen mit halbgesenkten Lidern auf dem hinteren Teil der Plattform, während sie ihr Volk draußen auf dem freien Platz beobachteten. Arbrins Hand ruhte beschützend auf der Schulter eines kleinen Jungen, der neben ihm zusammengerollt schlief; das Kind nuckelte im Schlaf rhythmisch am Daumen.
Überall standen Servierteller herum, auf denen wenig mehr als Essensreste lag, dazu Krüge mit verschiedenen Getränken, die man gemeinsam anläßlich der Feierlichkeiten geleert hatte. Obwohl einige der Getränke eine berauschende Wirkung hatten, wußte Kahlan, daß die Schlammenschen nicht dem Trunk verfallen waren.
» Guten Morgen, verehrter Ältester«, begrüßte Kahlan ihn in seiner Sprache.
Das ledrige Gesicht wurde nach oben gedreht, und er sah sie mit einem breiten Grinsen an. » Willkommen an diesem neuen Tag, mein Kind. «
Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder auf etwas mitten unter den Bewohnern seines Dorfes. Kahlan sah, wie Chandalen die leeren Krüge musterte, bevor er seine Männer mit einem schiefen Lächeln bedachte.
» Verehrter Altester«, sagte Kahlan, » Richard und ich möchten dir für die wundervolle Trauungszeremonie danken. Wenn du im Augenblick keine Verwendung für uns hast, würden wir gerne die heißen Quellen aufsuchen. «
Grinsend entließ er sie mit einer Handbewegung. » Bleibt nicht zu lange, sonst wird die Wärme, die ihr an der Quelle aufgenommen habt, vom Regen wieder fortgespült. «
Kahlan warf einen Blick auf den strahlend blauen Himmel, dann sah sie abermals zu Chandalen hinüber. Er gab ihr nickend zu verstehen, daß er derselben Ansicht war.
»Er meint, wenn wir bei den Quellen herumtrödeln, werden wir in den Regen kommen, bevor wir zurück sind.«
Verblüfft taxierte Richard den Himmel. »Ich denke, wir sollten uns ihren Rat zu Herzen nehmen und keine Zeit verschwenden.«
» Dann machen wir uns jetzt wohl besser auf den Weg«, meinte sie, an den Vogelmann gewandt.
Er winkte sie zu sich, und Kahlan trat näher. Aufmerksam betrachtete er die nicht weit entfernt im Staub scharrenden Hühner. Kahlan beugte sich zu ihm, lauschte auf seinen langsamen, gleichmäßigen Atem und wartete. Als sie schon glaubte, er habe vergessen, daß er etwas sagen wollte, zeigte er in das offene Gelände und flüsterte ihr etwas zu.
Kahlan richtete sich auf. Sie sah zu den Hühnern hinüber.
»Und?« fragte Richard. »Was hat er gesagt?«
Erst war sie unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, als sie jedoch die finsteren Blicke auf den Gesichtern von Chandalen und seinen Männern sah, war aller Zweifel ausgeräumt.
Kahlan war unsicher, ob sie seine Bemerkung übersetzen sollte: Sie wollte den Vogelmann später nicht in Verlegenheit bringen. Vielleicht hatte er das Feiern mit den rituellen Getränken ein wenig übertrieben.
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