Jennsen drückte ihrer Mutter noch schnell einen Kuß auf die Wange, dann lief sie den Pfad hinunter. Es hatte gerade angefangen zu regnen, und unter den Bäumen war es so finster, daß sie kaum etwas erkennen konnte. Die Bäume waren für sie allesamt d’Haranische Soldaten, mächtig, stark, bedrohlich. Sie wußte. sie würde Alpträume bekommen, sollte sie jemals einen echten d’Haranischen Soldaten aus der Nähe sehen.
Sebastian saß noch immer auf dem Felsen; als sie auf ihn zugerannt kam, erhob er sich.
»Meine Mutter meinte, es ist in Ordnung, wenn Ihr in der Höhle bei den Tieren schlaft. Sie hat bereits mit dem Braten der Fische für uns angefangen. Und sie würde Euch gern kennen lernen.«
Ihr zuliebe brachte er trotz seiner Müdigkeit ein zaghaftes Lächeln zustande. Jennsen faßte ihn am Handgelenk und drängte ihn, ihr zu folgen; er zitterte bereits vor Nässe, doch sein Arm fühlte sich warm an. So war es, wenn man Fieber hatte, sie kannte das. Man zitterte, obwohl man innerlich glühte. Aber nach einer Mahlzeit, ein paar Kräutern und einer durchschlafenen Nacht würde es ihm ganz bestimmt schon bald wieder besser gehen.
Was sie dagegen nicht mit Sicherheit wußte, war, ob er ihnen helfen würde.
Mißmutig sah Betty, die braunhaarige Ziege, aus ihrem Verschlag heraus zu, wie Jennsen rasch ein wenig Stroh für den Fremden in Bettys Heiligtum zur Seite räumte. Nach einem wehleidigen Meckern beruhigte sich das Tier schließlich, als Jennsen ihm liebevoll die Ohren kraulte, das drahtige Haar an seinem Bauch tätschelte und ihm anschließend eine halbe Möhre aus dem Vorrat oben auf dem hohen Felssims zu fressen gab; Bettys kurzer, senkrecht aufgestellter Schwanz wedelte heftig.
Sebastian legte Umhang und Rucksack ab, den Gürtel mit seinen neuen Waffen aber behielt er um. Er schnallte das Bettzeug unter seinem Rucksack los und breitete es über das Strohlager. Trotz Jennsens Drängen weigerte er sich, sich hinzulegen und auszuruhen, solange sie noch am Höhleneingang kniete, um die Feuerstelle einzurichten.
Als er ihr beim Aufschichten des trockenen Anmachholzes half, sah sie im schwachen Licht, das aus dem Fenster des Hauses auf der anderen Seite der Lichtung fiel, daß sich Schweißperlen auf seinem Gesicht gebildet hatten. Er schlug mehrmals Feuerstahl und Feuerstein aufeinander, bis die Funken in der Dunkelheit auf den von ihm gemachten Zunder übergriffen. Er hielt die Hände schützend über die wolligen Holzspäne und blies behutsam in die zögerlichen Flammen, bis sie stärker brannten; dann legte er den brennenden Zunder unter das Anmachholz, wo die Flammen zwischen den trockenen Zweigen rasch größer wurden und mit leisem Knall zum Leben erwachten. Kaum hatten sie Feuer gefangen, verströmten die Zweige einen angenehmen Balsamduft.
Ursprünglich hatte Jennsen zu dem nicht weit entfernten Haus hinüberlaufen wollen, um ein paar glühende Scheite zum Feuermachen zu holen, aber er hatte das Feuer längst brennen, bevor sie überhaupt dazu kam, den Vorschlag auszusprechen. So wie er zitterte, konnte er es vermutlich kaum erwarten, sich zu wärmen, obwohl er vor Fieber glühte. Sie konnte den vom Haus herüberwehenden Duft der gebratenen Fische riechen, und ab und zu, wenn der Wind in den Föhrenzweigen etwas nachließ, hörte sie sogar das Brutzeln.
Die zunehmende Helligkeit bewog die Hühner, sich in den rückwärtigen Teil der Höhle zurückzuziehen. Die Ohren wachsam aufgestellt, lauerte Betty auf ein Zeichen von Jennsen, ob vielleicht noch eine weitere Möhre für sie abfiel; ab und zu wackelte sie erwartungsvoll mit dem Schwanz.
Die Öffnung im Berghang war dadurch entstanden, daß sich in grauer Vorzeit eine Gesteinsplatte gelöst hatte, wie ein loser Zahn aus dem Granit herausgebrochen und den Hang herabgepoltert war, in dem sie eine trockene Höhle hinterlassen hatte. Die Höhle reichte nur etwa zwanzig Fuß weit in den Hang hinein, aber der Felsüberhang am Eingang bot zusätzlichen Schutz und half, den Innenraum trocken zu halten. Die Höhlendecke war hoch genug, so daß Jennsen trotz ihrer Größe fast überall aufrecht stehen konnte, ebenso Sebastian, der nur wenig größer war als sie.
Jennsen hatte sich Sebastian gegenüber auf der anderen Seite des Feuers niedergelassen, mit dem Rücken zum Regen, damit sie sein Gesicht im Schein des Feuers betrachten konnte, während sie sich beide die Hände in der Hitze der knisternden Flammen wärmten.
Sie versuchte dabei nicht daran zu denken, daß sie ihr gemütliches Heim verlassen mußten, noch dazu in dieser Jahreszeit. Gleich vom allerersten Augenblick an. als sie das Stück Papier gesehen hatte, war ihr klar gewesen, daß es so weit kommen konnte.
»Seid Ihr hungrig?«, fragte sie.
»Ich sterbe vor Hunger«, erwiderte er, offenbar ebenso gierig auf die Fische wie Betty auf ihre Möhre; die köstlichen Wohlgerüche ließen auch ihren Magen knurren.
»Das ist gut. Meine Mutter sagt immer, wenn man krank ist und trotzdem Appetit hat, kann es nicht allzu schlimm sein.«
»Ein, zwei Tage, dann geht es mir wieder prächtig.«
»Auch ein wenig Ruhe wird Euch guttun.«
Jennsen zog ihr Messer. »Es ist das erste Mal, daß wir jemanden hier übernachten lassen. Ihr habt sicherlich Verständnis dafür, daß wir ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen.«
Ihr Messer hatte – im Gegensatz zu der noblen Waffe des toten Soldaten – einen einfachen, aus einem Geweih gemachten Griff, und die Klinge war eher dünn; die Schneide jedoch hielt sie stets rasiermesserscharf.
Jennsen brachte sich mit der Klinge einen flachen Schnitt an der Innenseite ihres Unterarms bei. Sebastian runzelte die Stirn und wollte schon protestierend aufspringen, als ihr herausfordernder Blick ihn mitten in der Bewegung innehalten ließ. Also ließ er sich wieder zurücksinken und verfolgte mit wachsender Besorgnis, wie sie die Klinge mit der flachen Seite durch die dunkelroten Tropfen zog, die hervorquollen. Nach einem weiteren, ganz bewußten Blick in seine Augen kehrte sie ihm den Rücken zu und begab sich näher an die Höhlenöffnung, wo der Boden feucht vom Regen war.
Mit dem in Blut getauchten Messer zeichnete Jennsen einen großen Kreis. Sie spürte Sebastians Augen auf dem Rücken, als sie als Nächstes die blutige Klingenspitze in geraden Linien durch das feuchte Erdreich zog, so daß ein Quadrat entstand, dessen Ecken die Innenseite des Kreises gerade eben berührten.
Mit leiser Stimme sprach sie Gebete an die Gütigen Seelen, in denen sie sie darum bat, ihre Hand zu führen, ein Vorgehen, das ihr durchaus angemessen erschien. Sie wußte, daß Sebastian ihren leisen eintönigen Sprechgesang hören, die Worte aber nicht verstehen konnte. Ganz unerwartet kam ihr in den Sinn, daß es für ihn ganz so sein mußte wie die Stimmen, die sie manchmal selbst in ihrem Kopf vernahm. Manchmal hörte sie beim Zeichnen des äußeren Kreises die leblos wirkende Stimme flüsternd ihren Namen rufen.
Nach Aufsagen des Gebets öffnete sie die Augen wieder und zeichnete einen achteckigen Stern, dessen Zacken den Innenkreis, das Quadrat und schließlich den Außenkreis durchdrangen. Jeder zweite Zacken teilte eine Ecke des Quadrats exakt in der Mitte.
Die Ecken standen angeblich für die Gabe des Schöpfers, deswegen sprach Jennsen beim Zeichnen des achtstrahligen Sterns stets ein stilles Dankgebet für die Gabe ihrer Mutter.
Als sie fertig war und den Blick hob, stand ihre Mutter vor ihr und wurde von den züngelnden Flammen hinter Jennsen angestrahlt. Im Schein dieser Flammen glich ihre Mutter dem Traumbild einer unfassbar schönen Seele.
»Wißt Ihr, was diese Zeichnung bedeutet, junger Mann?«, fragte Jennsens Mutter mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
Sebastian starrte zu ihr hoch, wie es die Menschen häufig taten, wenn sie sie zum ersten Mal erblickten, und schüttelte den Kopf.
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