»Nun, wenn das so ist, habt Ihr wahrscheinlich Recht. Vielleicht solltet Ihr beide tatsächlich fliehen.«
»Würdet Ihr uns – oder zumindest Jennsen – helfen, D’Hara zu verlassen?«
Sein Blick wanderte von einer Frau zur anderen. »Wenn es in meiner Macht steht, kann ich es versuchen. Aber laßt Euch eins gesagt sein, Verstecken könnt Ihr Euch nicht. Wenn Ihr jemals frei sein wollt, werdet Ihr ihn töten müssen.«
»Ich bin keine Mörderin«, warf Jennsen ein.
Sebastian begegnete ihrem Blick, sein weißes Haar, rötlich im Schein des Feuers, umrahmte seine kalten blauen Augen. »Ihr wäret nicht so überrascht, wenn Ihr wüßtet, zu was ein Mensch fähig ist sobald er nur über die richtigen Beweggründe verfügt.«
Ihre Mutter hob die Hand, um dieses Gerede zu unterbinden. Sie war eine praktisch denkende Frau und nicht gewillt, kostbare Zeit mit wilden Plänen zu vergeuden. »Im Augenblick ist für uns nur wichtig, daß wir von hier fortgehen. Lord Rahls Handlanger sind uns zu dicht auf den Fersen, das ist die schlichte Wahrheit. Der Beschreibung und dein Messer zufolge gehörte der Tote, den ihr heute gefunden habt, wahrscheinlich einem Quadron an.«
Sebastian hob stirnrunzelnd den Kopf. »Einem was?«
»Einem Trupp aus vier Meuchelmördern. Manchmal arbeiten auch mehrere Quadronen Hand in Hand – wenn sich ihr Opfer als besonders schwer zu fassen herausstellt oder von unschätzbarem Wert ist. Beides trifft auf Jennsen zu.«
Sebastian dachte nach. »Für jemanden, der lange Jahre auf der Flucht war und in Verstecken lebte, scheint Ihr eine Menge über diese Quadronen zu wissen. Seid Ihr sicher, daß Ihr mit Eurer Vermutung richtig liegt?«, fragte er dann.
Der Schein des Feuers tanzte in den Augen ihrer Mutter, und ihre Stimme bekam einen entrückten Unterton. »Als ich noch jung war, lebte ich im Palast des Volkes. Ich habe diese Männer, diese Quadronen, dort oft gesehen. Darken Rahl bediente sich ihrer, um Jagd auf bestimmte Personen zu machen. Ihre Skrupellosigkeit übertrifft alles, was Ihr Euch vorsteilen könnt.«
Sebastian wirkte beunruhigt. »Nun, das wißt Ihr vermutlich besser als ich. Wir brechen also morgen früh auf.« Er räkelte sich und gähnte. »Eure Kräuter fangen bereits an zu wirken, und das Fieber hat mich erschöpft. Sobald ich eine Nacht lang durchgeschlafen habe, werde ich Euch helfen, von hier fortzukommen, fort aus D’Hara und in die Alte Welt, sofern das Euer Wunsch ist.«
»Ist es.« Ihre Mutter erhob sich. Im Vorbeigehen strich sie Jennsen liebevoll über den Hinterkopf »Ich werde ein paar Sachen zusammensuchen und alles packen, was wir mitnehmen können.«
»Ich komme gleich nach«, rief Jennsen. »Sobald ich das Feuer mit Asche zugedeckt habe.«
Der Regen wurde immer heftiger, und das vom Boden nicht mehr aufgenommene Wasser ergoß sich über den Felsvorsprung am Oberrand der Höhle. Jennsen kraulte Betty hinter dem Ohr und versuchte, das meckernde Tier zu beruhigen. Die Ziege war plötzlich überhaupt nicht mehr zu besänftigen; vielleicht spürte sie, daß sie im Begriff waren, ihr Zuhause aufzugeben, oder aber sie war einfach unglücklich, weil Jennsens Mutter ins Haus zurückgegangen war. Betty schien geradezu vernarrt in sie und lief ihr oft auf dem Hofplatz nach wie ein junger Hund.
Sebastian hatte sich den Bauch mit Fisch voll geschlagen und hüllte sich nun in seinen Umhang. Beim Versuch, ihr beim Zudecken des Feuers zuzuschauen, wurden ihm die Lider schwer. Er hob den Kopf und sah mißmutig zu der unablässig hin und her rennenden Ziege hinüber.
»Betty beruhigt sich bestimmt gleich wieder, sobald ich ins Haus hinübergegangen bin«, meinte Jennsen leichthin. Sosehr sie darauf brannte, ihn nach den Ländern jenseits von D’Hara auszufragen, wünschte sie ihm eine gute Nacht, auch wenn er sie bei diesem Regen vermutlich gar nicht hörte. Später würde noch Zeit genug sein, ihm ihre Fragen zu stellen. Bestimmt wartete ihre Mutter schon darauf, daß sie ihr beim Zusammenpacken der Dinge half, die sie mitnehmen wollten. Obwohl sie nicht viel besaßen, würden sie einen Teil ihres Besitzes zurücklassen müssen.
Wenigstens hatte der Tod des ungeschickten d’Haranischen Soldaten sie zu einem Zeitpunkt mit Geld versorgt, da sie es am dringendsten benötigten. Die Summe reichte, um Pferde und Vorräte zu kaufen, mit deren Hilfe sie D’Hara verlassen konnten. Der neue Lord Rahl, dieser uneheliche Sohn eines unehelichen Sohnes aus einer langen, lückenlosen Linie unehelicher Söhne, hatte ihnen, ohne es zu wollen, die Mittel an die Hand gegeben, sich seinem Zugriff zu entziehen.
Das Leben war so kostbar. Sie hatte keinen anderen Wunsch, als daß sie und ihre Mutter endlich ihr eigenes Leben leben konnten, ein Leben, das irgendwo jenseits des fernen, dunklen Horizonts auf sie wartete.
Jennsen warf sich den Umhang über die Schultern und schlug die Kapuze hoch, um sich gegen den Regen zu schützen, doch so, wie es im Augenblick schüttete, würde sie auf ihrer Flucht zum Haus wahrscheinlich trotzdem naß werden. Sie nahm behutsam die Schüssel mit den wenigen übrig gebliebenen Fischstücken vom Boden auf, verstaute sie sicher unter ihrem Umhang, hielt den Atem an und stürzte sich gesenkten Kopfes in den prasselnden Regen. Der Schock des eiskalten Regenwassers verschlug ihr den Atem, als sie mit eiligen Schritten durch die dunklen Pfützen zum Haus hinüberplatschte. Ohne aufzublicken, stieß sie die Tür auf und stürzte hinein.
»Kalt ist es wie das Herz des Hüters!«, rief sie ihrer Mutter zu.
Die Luft entwich mit einem Ächzen aus ihren Lungen, als Jennsen gegen eine massive Wand prallte, die vorher noch nicht dort gestanden hatte. Sie hob den Kopf und sah vor sich einen breiten Rücken sowie eine riesige Hand, die sie zu packen versuchte.
Die Hand bekam nur ihren Umhang zu fassen; beim Zurückweichen wurde ihr der schwere Wollumhang vom Leib gerissen. Die Schüssel fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, wo sie sich wie ein wild gewordener Kreisel drehte. Die Tür prallte von der Wand zurück, fiel krachend hinter ihr ins Schloß und versperrte ihr so den Fluchtweg.
Nach Atem ringend, reagierte Jennsen.
Ihre Reaktion erfolgte rein von Gefühlen bestimmt, nicht etwa als Folge bewußter Überlegung.
Jennsen.
Aus Todesangst.
Gib dich hin.
Aus Verzweiflung.
Die markanten Züge des Mannes waren im Lichtschein des Kamins deutlich zu erkennen. Er stürzte sich auf sie, ein Ungetüm mit strähnigem, nassem Haar, ein wütender Koloß aus angespannten Sehnen und Muskeln. Getrieben von blankem Entsetzen, zückte sie blitzschnell das Messer.
Ihr Schrei glich einem aus Panik und übermenschlicher Anstrengung geborenen Knurren. Das Messer bohrte sich ihm seitlich in den Kopf, die Klinge brach in der Mitte entzwei, als sie auf seinen Wangenknochen traf. Durch den Aufprall wurde sein Kopf herumgerissen. Blut spritzte über sein Gesicht.
Wie von Sinnen um sich schlagend, traf er sie mit seiner fleischigen Hand mitten ins Gesicht, so daß sie mit der Schulter gegen die Wand prallte. Ein stechender Schmerz schoß durch ihren Arm, und irgendwo blieb sie mit den Füßen hängen. Aus dem Gleichgewicht geraten, stolperte sie und stürzte hin, schlug mit dem Gesicht auf den Fußboden. neben einem weiteren der hünenhaften Männer der genauso aussah wie der tote Soldat, den sie verscharrt hatten. Ihr Verstand klammerte sich an die bruchstückhafte Wahrnehmung dessen, was sie vor sich sah. Woher kamen diese Männer? Wieso waren sie überhaupt in ihrem Haus?
Sie stemmte sich hoch. Der Fremde lehnte, in sich zusammengesunken, an der Wand und stierte sie aus toten Augen an. Auf dem Griff mit dem verzierten »R«, schräg unterhalb seines Ohrs, spiegelte sich der Feuerschein. Die Messerspitze lugte aus der gegenüberliegenden Seite seines Stiernackens heraus; sein Hemd war naß und dunkelrot.
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