Einen verblüfften Ausdruck in den Augen, ergriff ihre Mutter es zögernd mit beiden Händen, während sie leise murmelte, »Gütige Seelen.«
»Ich weiß«, meinte Jennsen. »Als ich es sah, hätte ich vor Schreck fast laut aufgeschrien. Sebastian meinte, es sei eine sehr noble Waffe, viel zu nobel, um sie zu vergraben, deshalb wollte er, daß ich sie an mich nehme. Das Kurzschwert des Soldaten und die Axt hat er selbst behalten. Als ich ihm daraufhin erklärte, ich würde es dir schenken, meinte er, er hoffe, es werde dir helfen, dich sicher zu fühlen.«
Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Dieses Ding wird mir ganz und gar nicht helfen, mich sicher zu fühlen – erst recht nicht, seit ich weiß, daß der Mann, der es bei sich trug, ganz in unserer Nähe war. Jenn, das Ganze gefällt mir nicht. Absolut nicht.«
»Sebastian ist krank, Mutter. Kann er nicht in der Höhle übernachten? Ich ließ durchblicken, daß er von uns mehr zu befürchten hat als wir von ihm.«
Ihre Mutter sah verschmitzt lächelnd auf. »Kluges Mädchen.« Sie wußten beide, daß sie als Gespann zusammenarbeiten mußten, wenn sie überleben wollten.
Daraufhin seufzte sie, als bedrücke sie das Wissen um all die Dinge, die ihre Tochter im Leben entbehren mußte. Zärtlich strich sie Jennsen mit der Hand durchs Haar.
»Also gut, meine Kleine«, meinte sie schließlich, »heute Nacht werden wir ihn hier schlafen lassen.«
»Und ihm etwas zu essen geben. Ich hab ihm eine warme Mahlzeit für seine Hilfe versprochen.«
Das innige Lächeln ihrer Mutter wurde breiter. »Also gut, und eine Mahlzeit.«
Noch immer hielt sie das Messer in der Hand und betrachtete nachdenklich das fein ziselierte »R«. Jennsen vermochte sich nicht vorzustellen, welche grauenhaften Gedanken – und Erinnerungen – ihrer Mutter durch den Kopf gehen mußten, während sie schweigend das Wahrzeichen des Hauses Rahl betrachtete.
»Gütige Seelen«, meinte ihre Mutter noch einmal leise bei sich.
Jennsen schwieg, wußte sie doch nur zu gut, daß es ein häßlicher, ein schändlicher Gegenstand war.
»Mutter«, meinte Jennsen leise, nachdem diese den Griff sehr lange betrachtet hatte, »es ist fast dunkel. Darf ich jetzt Sebastian holen gehen und ihn zur Höhle bringen?«
Ihre Mutter schob die Klinge zurück in die Scheide, als wollte sie sich mit dieser Geste gleichzeitig einer endlosen Folge schmerzhafter Erinnerungen entledigen.
»Ja, vermutlich ist es besser, wenn du ihn jetzt holst. Bring ihn zur Höhle und zünde ihm ein Feuer an. Ich werde die Fische zubereiten und ihm ein paar Kräuter mitbringen, damit er trotz seines Fiebers schlafen kann. Bleib bei ihm, bis ich komme, und laß ihn nicht aus den Augen. Wir werden zusammen mit ihm dort draußen essen, denn im Haus will ich ihn nicht haben.«
Bevor ihre Mutter wieder ins Haus gehen konnte, hielt Jennsen sie mit einer sachten Berührung am Arm zurück, denn sie mußte ihr ja noch etwas gestehen. Liebend gern hätte sie ihr diesen Kummer erspart, doch es führte kein Weg daran vorbei.
»Mutter«, sagte sie mit einer Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, »wir werden dieses Haus aufgeben müssen.«
Ihre Mutter war entsetzt.
»Ich habe bei dem d’Haranischen Soldaten noch etwas gefunden.«
Jennsen zog das Stück Papier aus der Tasche, faltete es auseinander und zeigte es ihr.
Ihre Mutter erfaßte die beiden Worte auf dem Papier mit einem Blick.
»Gütige Seelen ...«, war alles, was sie sagte.
Sie wandte sich um und schaute, alles in sich aufnehmend, zum Haus hinüber, als ihr plötzlich die Tränen in die Augen traten. Jennsen wußte, daß auch ihre Mutter es mittlerweile als ihr Zuhause betrachtete.
»Gütige Seelen«, wiederholte ihre Mutter leise bei sich, um jedes weitere Wort verlegen.
Jennsen brach es fast das Herz, ihre Mutter solche Seelenqualen erleiden zu sehen. Was immer Jennsen im Leben hatte missen müssen – ihre Mutter hatte es doppelt entbehrt, einmal für sich selbst, und einmal für ihre Tochter. Und zu allem Überfluß hatte sie dabei auch noch stark sein müssen.
»Wir brechen gleich im Morgengrauen auf«, entschied ihre Mutter schlicht. »Ein Fußmarsch nachts und bei Regen würde uns nicht weiterhelfen. Wir werden uns ein neues Versteck suchen müssen. Diesem ist er bereits zu nahe gekommen.«
Mittlerweile standen auch Jennsen die Tränen in den Augen, und das Sprechen fiel ihr mehr als schwer. »Es tut mir unendlich leid, Mama, daß ich dir so viel Kummer mache.« Dann kamen ihr die Tränen in einer quälenden, unaufhaltsamen Flut. Ihre Hände zu Fäusten ballend, zerknüllte sie das Stück Papier.
Daraufhin schloß ihre Mutter sie in die Arme. »Ach, Unsinn, meine Kleine. So etwas darfst du niemals sagen. Du bist mein Licht mein Leben. An meinem Kummer sind ganz andere schuld. Du darfst dich niemals hinter Schuldgefühlen verstecken, nur weil diese Menschen böse sind. Du bist das Wunderbarste in meinem Leben, für dich würde ich alles andere tausendmal und mehr aufgeben, und das mit Freuden.«
Schließlich löste sie sich aus der Umarmung ihrer Mutter. »Mama, Sebastian kommt von sehr weit her, hat er mir erzählt. Er sagte, er stamme aus einem Land jenseits von D’Hara. Es gibt also noch andere Orte – andere Länder. Er kennt sie; ist das nicht wunderbar? Es gibt einen Ort, der nicht zu D’Hara gehört.«
»Aber diese Länder liegen jenseits unüberwindbarer Grenzen.«
»Wie kommt es dann, daß er hier ist?«
»Und Sebastian stammt tatsächlich aus einem dieser anderen Länder?«
»Unten im Süden, hat er gesagt.«
»Im Süden?«
»Ja.« Jennsen bekräftigte ihre Antwort mit einem entschiedenen Nicken. »Er erwähnte es ganz beiläufig. Vielleicht könnte er uns den Weg dorthin zeigen, Mutter. Wenn wir ihn darum bitten, führt er uns vielleicht aus diesem schlimmen Land hier hinaus.«
Jennsen konnte sehen, daß ihre sonst so vernünftige Mutter sich diese abwegige Idee durch den Kopf gehen ließ. Verrückt war der Gedanke jedenfalls nicht – ihre Mutter dachte darüber nach, also konnte er gar nicht verrückt sein. Plötzlich war Jennsen von dem Gefühl der Hoffnung erfüllt, ihr könnte vielleicht etwas eingefallen sein, das sie am Ende retten würde.
»Warum sollte er das für uns tun?«
»Ich weiß es nicht. Auch weiß ich nicht einmal, ob er es überhaupt in Erwägung ziehen oder was er dafür verlangen würde, danach habe ich ihn gar nicht gefragt. Ich habe mich nicht mal getraut, es überhaupt zu erwähnen, bevor ich nicht mit dir gesprochen hatte. Deswegen wollte ich zum Teil ja auch, daß er hier bleibt – damit du ihn aushorchen kannst.«
Ihre Mutter drehte sich abermals um und betrachtete das Haus. Es war winzig, bestand nur aus einem einzigen Raum und war – aus Stämmen und Brettern erbaut, die sie selbst zurechtgehauen hatten – wahrlich nichts Besonderes, aber es war warm, gemütlich und trocken. Die Vorstellung, mitten im tiefsten Winter von hier fortzugehen, war beängstigend. Aber die Alternative, ergriffen zu werden, war weitaus schlimmer.
Schließlich hatte sich ihre Mutter wieder gefaßt und sagte, »Das war klug von dir, Jenn. Ich weiß nicht, ob die Idee zu etwas führen kann, aber wir werden mit Sebastian sprechen und dann weitersehen. Eins steht jedenfalls fest, Wir müssen von hier fort. Bis zum Frühjahr dürfen wir nicht warten – nicht, wenn sie uns schon so dicht auf den Fersen sind. Im Morgengrauen brechen wir auf.«
»Wo werden wir diesmal hingehen, Mutter, falls Sebastian uns nicht aus D’Hara hinausbringt?«
Ihre Mutter lächelte. »Die Welt ist groß, wir dagegen sind nur zwei unbedeutende Menschen. Wir werden uns einfach wieder einmal unsichtbar machen. Ich weiß, es ist schwer, aber wenigstens sind wir zusammen. Alles wird gut werden. Vielleicht werden wir ein wenig mehr von der Welt zu sehen bekommen, was meinst du? Und jetzt geh Sebastian holen und bringe ihn zur Höhle. Ich werde inzwischen mit dem Abendessen anfangen.«
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