»Hört mir endlich mal jemand zu?« Zedd rappelte sich mühsam hoch und schüttelte aufgebracht die Fäuste. »Ich habe soeben einen Sonnenuntergangsbann ausgelöst!«
»Einen was?«, fragte Chase.
»Einen Sonnenuntergangsbann – das ist ein Schutzmechanismus aus der Burg der Zauberer, eine Art Schild, der sich, sobald er erkennt, daß andere Schilde verletzt und die dahinter gesicherten Gegenstände entnommen werden, heimlich unter die gestohlenen Gegenstände schmuggelt. Öffnet ein Dieb ihn, um nachzusehen, um was es sich handelt, wird der Bann aktiviert, worauf dieser beim ersten Sonnenuntergang zündet und sämtliche bei der Plünderung gestohlenen Gegenstände vernichtet.«
Schwester Tahirah drohte ihm mit erhobener Faust. »Was seid Ihr für ein Narr.«
Rikka faßte ihn beim Arm. »Also nichts wie weg.«
Chase packte Zedds anderen Arm und riß ihn noch einmal zurück. »Augenblick mal.«
Zedd befreite seine beiden Arme aus dem Griff und deutete durch den Schlitz in der Seitenwand des Zelts auf die untergehende Sonne. »Uns bleiben nur wenige Augenblicke, bis sich alles hier in einen Feuerball verwandelt.«
»Wie groß wäre dieser Feuerball?« fragte Captain Zimmer. Zedd warf verzweifelt die Hände über den Kopf. »Er wird Tausende Opfer fordern, also längst nicht das ganze Feldlager vernichten, aber der gesamte Bereich hier in der Nähe wird dem Erdboden gleichgemacht werden.«
Darauf fingen alle an, durcheinander zu reden, bis Chase ihnen mit einem barschen Kommando nach Ruhe ins Wort fiel. »Hört mir jetzt zu. Wenn wir den Eindruck erwecken, als wollten wir fliehen, wird man uns mit Sicherheit aufgreifen. Captain, Ihr und Eure Männer kommen mit mir. Wir tun so, als wären Zedd und Adie unsere Gefangenen. Rachel ebenfalls – auf dieselbe Weise bin ich bereits ins Lager hineingelangt. Ich hatte nämlich herausgefunden, daß hier auch Kinder festgehalten werden.« Mit einer flüchtigen Handbewegung deutete er auf Rikka und Schwester Tahirah. »Die beiden müssen aussehen wie Schwestern, die Gefangene in Gewahrsam haben, während wir die Aufpasser spielen.«
»Wollt Ihr nicht erst dieses Ding an Eurem Hals loswerden?«, wandte Rikka sich an Zedd.
»Dafür ist jetzt keine Zeit. Gehen wir.«
Adie faßte Zedd beim Arm. »Nein.«
»Was!«
»Hör mir zu, alter Mann. In den Zelten ringsum befinden sich all die Familien mit ihren Kindern. Sie werden sterben. Geh du nur, geh zur Burg der Zauberer. Unterdessen werde ich all die unschuldigen Menschen hier rausschaffen.«
Zedd gefiel diese Idee ganz und gar nicht doch Adie zu widersprechen war ein aussichtsloses Unterfangen, zudem blieb nun wirklich keine Zeit mehr.
»Wir werden uns also aufteilen«, sagte Captain Zimmer. »Ich und meine Männer werden die Rolle der Wachtposten übernehmen und die Männer, Frauen und Kinder zusammen mit Adie von hier fort hinter unsere Linien schaffen.«
Rikka nickte. »Richtet Verna aus, ich werde Zedd begleiten und ihm bei der Rückeroberung der Burg helfen. Er wird eine Mord-Sith brauchen, die ihm den Ärger vom Hals hält.«
Alle blickten um sich, um zu sehen, ob jemand etwas einzuwenden hatte. Da niemand etwas sagte, schien plötzlich alles geklärt.
»Also abgemacht«, sagte Zedd.
Er schlang seine Arme um Adie und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Nimm dich in Acht. Sag Verna, daß ich die Burg zurückerobern werde, und hilf ihr bei der Verteidigung der Pässe.«
Adie nickte. »Sei du auf der Hut und hör auf Chase – es war sehr heldenhaft von ihm, deinetwegen den weiten Weg hierher zu machen.«
Zedd lächelte, doch dann blieb ihm die Luft weg, als Chase sein Gewand packte und ihn mit einem kräftigen Ruck aus dem Zelt beförderte. »Die Sonne geht unter – wir sollten machen, daß wir verschwinden. Und vergeßt nicht, ihr seid unsere Gefangenen.«
»Die Rolle ist mir sozusagen auf den Leib geschrieben«, knurrte Zedd, wahrend er wie ein Sacke Getreide aus dem Zelt geschleift wurde. Adie spürte sein Lächeln. Sie lächelte zurück, dann war sie verschwunden.
»Augenblick!« Zedd langte in einen der Wagen hinein, zog einen Gegenstand hervor, den er vor der Zerstörung retten wollte, und ließ ihn in seine Tasche gleiten. »In Ordnung, jetzt können wir gehen.«
Das Feldlager draußen vor dem Zelt befand sich in heillosem Durcheinander. Elitetruppen in höchster Alarmbereitschaft hasteten auf ihrem Weg zu den Kommandozelten mit gezogenen Waffen vorbei. Andere Truppen eilten zum Ring aus Barrikaden hinüber. Trompeten bliesen Alarm und riefen die Soldaten mit verschlüsselten Kommandos auf ihre jeweiligen Positionen. Zedd befürchtete schon, seine kleine Gruppe könnte festgehalten und womöglich verhört werden.
Statt abzuwarten, bis es dazu kam, streckte Chase die Hand aus und schnappte sich einen der vorübereilenden Soldaten. »Was ist in dich gefahren? Schnapp dir gefälligst ein paar Männer, um die Gefangenen zu bewachen, bis ich sie an einen sicheren Ort gebracht habe! Der Kaiser verlangt unseren Kopf, wenn wir sie entkommen lassen.«
Der Soldat rief rasch ein Dutzend Soldaten zusammen und schloß sich der kleinen aus Rikka, Schwester Tahirah, Rachel und Zedd bestehenden Gruppe an. Rachel spielte die Rolle des kleinen, vor Angst heulenden Mädchens ziemlich überzeugend. Der besseren Wirkung wegen rüttelte Chase sie ab und zu durch und brüllte sie an, sie solle endlich die Klappe halten. Ein Blick über seine Schulter zeigte Zedd, daß die Sonne bereits den Horizont berührte, worauf er der vorneweg laufenden Rikka knurrend riet, einen Schritt zuzulegen.
An den Barrikaden wurden sie von den finster dreinblickenden Wachtposten erst eingehend gemustert, ehe diese sie passieren ließen. Da ihre eigentliche Aufgabe darin bestand, niemanden ins Lager hereinzulassen, versetzte diese Gruppe aus eigenen Truppen sowie einigen Gefangenen auf dem Weg nach draußen sie in vorübergehende Verwirrung, bis sich schließlich einer von ihnen dazu durchrang, sich ihnen in den Weg zu stellen, um sie anzuhalten und zu befragen.
Chase stieß ihn mit gestrecktem Arm zur Seite. »Aus dem Weg, Idiot! Befehl des Kaisers!«
Mit gerunzelter Stirn verfolgte er. wie die kleine Prozession an ihm vorüberhastete. Während er noch überlegte, wie er sich verhalten sollte, waren sie bereits vorbei und nicht mehr zu sehen. Das äußere, größere Feldlager hatte sie verschluckt.
Kurz darauf hatten sie den zentralen Bereich des Lagers hinter sich gelassen, doch schon wenig später machten gewöhnliche Soldaten, die Rikka der Gruppe vorauseilen sahen, erneut Anstalten, sich ihnen in den Weg zu stellen. Eine schöne Frau, hier, inmitten dieser primitiven Burschen, zog Ärger geradezu magnetisch an, und angesichts der Verwirrung, die diese Soldaten drüben bei den Kommandozelten sahen, glaubten sie freie Hand zu haben – zumindest, solange ihre Offiziere anderweitig beschäftigt waren. Rikka und Chase setzten alles daran, daß die kleine Gruppe ihr forsches Tempo beibehielt, doch plötzlich schlossen die Soldaten grinsend ihre Reihen und versperrten ihnen den Weg. Einer der Soldaten, dem zwei Schneidezähne fehlten, löste sich aus der Front seiner Kameraden und hielt, einen Daumen hinter seinen Gürtel gehakt, die andere Hand in die Höhe.
»Augenblick mal. Ich könnte mir vorstellen, daß die Damen gern auf einen Besuch bei uns hereinschauen würden.«
Rachel zögerte nicht eine Sekunde; sie langte unter den Saum ihres Kleides und zog ein Messer. Ohne ihre Schritte zu bremsen oder sich auch nur umzusehen, reichte sie es über ihre Schulter. In einer einzigen fließenden Bewegung, und ohne in seiner Vorwärtsbewegung innezuhalten, faßte Chase es an der Spitze und schleuderte es auf den Zahnlosen. Es bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch bis zum Heft in seine Stirn.
Noch während er nach hinten taumelte, reichte Rachel bereits das zweite Messer über ihre Schulter. Chase nahm es entgegen und warf. Als auch der zweite in einer schraubenden Bewegung tot zu Boden sank, traten die übrigen Männer zur Seite und ließen die kleine vorwärts stürmende Gruppe passieren. Tödliche Auseinandersetzungen wie diese waren im Lager der Imperialen Ordnung an der Tagesordnung.
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