»Wir haben ein Jahr Zeit, sie zu beschaffen«, erwiderte sie mit ruhiger Entschlossenheit. »Vom ersten Tag des Winters, also von heute an gerechnet.«
In seiner Wut und Verzweiflung warf Zedd die Hände in die Luft. »Selbst wenn es uns gelingen sollte, sie zu finden, glaubt Ihr wirklich, Ihr wärt imstande, über die Macht der Ordnung zu gebieten?«
»Ich selbst nicht«, antwortete sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
Zedd neigte den Kopf zur Seite, unsicher, ob er tatsächlich richtig gehört hatte. Sein Verdacht schlug um in siedend heiße Bestürzung.
»Was soll das heißen, Ihr selbst nicht! Eben sagtet Ihr doch, Ihr hättet die Kästchen ins Spiel gebracht.«
Nicci trat näher und legte ihm sachte eine Hand auf den Unterarm.
»Als ich die Pforte öffnete, wurde ich gebeten, den Namen des Spielers zu nennen. Also nannte ich Richard. Ich habe die Kästchen der Ordnung in seinem Namen ins Spiel gebracht.«
Zedd war wie vom Donner gerührt. Am liebsten hätte er sie erschlagen, sie erwürgt, ihr Glied um Glied ausgerissen.
»Ihr habt Richard als Spieler angegeben?«
Sie nickte. »Es war die einzige Möglichkeit.«
Zedd fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch seinen widerspenstigen, weißen Lockenschopf und hielt sich dann den Kopf, als befürchtete er, dieser könnte auseinanderplatzen.
»Die einzige Möglichkeit. Verdammt, Frau, habt Ihr den Verstand verloren?«
»So beruhigt Euch doch, Zedd. Ich weiß, das alles kommt ein wenig überraschend, aber ich habe es schließlich nicht aus einer Laune heraus getan. Es ist alles wohldurchdacht. Glaubt mir, ich habe es mir ganz genau zurechtgelegt. Wenn wir, denen viel am Leben gelegen ist, überleben wollen, wenn es eine Chance für den Fortbestand des Lebens, ja überhaupt eine Zukunft geben soll, ist dies die einzige Möglichkeit.«
Zedd ließ sich schwer auf einen der am Tisch stehenden Stühle sacken. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, sagte er sich, ehe er etwas nicht Wiedergutzumachendes tat und aus blindwütigem Zorn reagierte. Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was er über die Kästchen und die gegenwärtigen Geschehnisse wusste, versuchte sich an alle Verzweiflungstaten in seinem Leben zu erinnern - und es mit ihren Augen zu sehen.
Es gelang ihm nicht.
»Nicci, zurzeit weiß Richard nicht einmal, wie er von seiner Gabe Gebrauch machen kann.«
»Er wird eben eine Möglichkeit finden müssen.«
»Er hat von den Kästchen der Ordnung keine Ahnung.«
»Wir werden es ihm beibringen müssen.«
»Wir wissen doch nicht einmal selbst genug über sie. Wir wissen nicht einmal, welches das korrekte Buch der gezählten Schatten ist. Nur die korrekte Abschrift funktioniert als Schlüssel für die Kästchen.«
»Wir werden es eben herausfinden müssen.«
»Bei den Gütigen Seelen, Nicci, wir kennen ja nicht einmal Richards derzeitigen Aufenthaltsort.«
»Wir wissen, dass die Hexe ihn in der Sliph gefangen zu nehmen versucht hat und dies misslungen ist. Richards Bemerkungen lässt sich entnehmen, dass Sechs ihn vermutlich von seiner Gabe abgeschnitten hat, indem sie die Banne in den heiligen Höhlen von Tamarang zeichnete. Nach Aussage Rachels hat Sechs ihn verloren, als er von der Imperialen Ordnung gefangen genommen wurde. Nach allem, was wir wissen, könnte er ihnen mittlerweile ebenfalls entkommen und bereits auf dem Weg hierher sein. Und wenn nicht, werden wir ihn eben finden müssen.«
Offenbar konnte Zedd ihr nicht begreiflich machen, welchen Hindernissen sie sich gegenübersahen. »Was Ihr da redet, ist ein Ding der Unmöglichkeit!«
Da lächelte sie, es war ein trauriges Lächeln. »Ein mir bekannter und von mir sehr geschätzter Zauberer, der Richard zu dem gemacht hat, der er ist, brachte ihm einmal bei, stets an die Lösung zu denken und nicht an das Problem. Der Rat hat sich stets als sehr nützlich erwiesen.«
Davon wollte Zedd nichts hören. Er sprang auf. »Dazu hattet Ihr kein Recht, Nicci. Ihr habt kein Recht, über sein Leben zu entscheiden und ihn als Spieler zu benennen.«
Ihr Lächeln erlosch und gab den Blick auf die darunterliegende stählerne Härte frei. »Ich kenne Richard, ich weiß, er kämpft um sein Leben. Ich weiß, was dies für ihn bedeutet, und dass er nichts unversucht lassen würde, um den Fortbestand der Welt des Lebendigen zu sichern. Ich weiß auch, dass er, wäre er auf demselben Kenntnisstand wie ich, gewollt hätte, dass ich so handele.«
»Nicci, Ihr könnt unmögli-«
»Zedd«, fiel sie ihm herrisch ins Wort, »ich habe Euch gefragt, ob Ihr Richard Euer Leben, alles Leben, anvertrauen würdet. Das habt Ihr bestätigt. Diese Worte bedeuten etwas. Ihr habt nicht etwa verlegen herumgestottert und Euer Vertrauen zu relativieren versucht. Jemandem sein Leben anzuvertrauen, ist als Vertrauensbeweis so unmissverständlich, wie es nur sein kann.
Richard ist der Einzige, der uns in die entscheidende Schlacht führen kann. Jagang und die Imperiale Ordnung mögen eine Rolle dabei spielen, aber die eigentliche entscheidende Schlacht findet um die Macht der Ordnung statt. Dafür werden die Schwestern der Finsternis, die über die Kästchen gebieten, sorgen. Sie werden es auf die eine oder andere Weise sicherstellen. Richard kann uns nur anführen, wenn er die Kästchen im Spiel hat. Denn so wird er zur wahrhaftigen Erfüllung der Prophezeiung:
fuer grissa ost drauka - der Bringer des Todes.
Aber dies ist mehr als nur eine Prophezeiung. Eine Prophezeiung drückt lediglich aus, was wir bereits wissen, nämlich dass Richard derjenige ist, der uns bei der Verteidigung unserer hochgeschätzten Werte, jener Werte, die das Leben begünstigen, bereits angeführt hat. Richard selbst nannte die Bedingungen für diesen Kampf, als er zu den D’Haranischen Truppen sprach. Als Lord Rahl, Anführer des D’Haranischen Reiches, erklärte er den Männern, wie dieser Krieg von nun an geführt werden würde: alles oder nichts.
Anders können wir auch hier nicht vorgehen. Im Grunde seines Herzens ist Richard vollkommen aufrichtig, er würde von niemandem etwas verlangen, was er nicht auch selbst tun würde. Er ist der Kern dessen, was wir glauben. Er würde uns niemals verraten.
Wir stecken jetzt auf Gedeih und Verderb in dieser Sache drin. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um alles oder nichts.«
Zedd warf die Arme in die Luft. »Aber ihn als Spieler zu benennen ist nicht die einzige Möglichkeit, uns in diesem Kampf anzuführen, nicht seine einzige Erfolgschance - es könnte aber sehr wohl der Grund für sein Scheitern sein. Eure Handlungsweise könnte unser aller Untergang bedeuten.«
Ein Ausdruck von Überzeugtheit, Entschlossenheit und Zorn trat in ihre blauen Augen, der ihm klarmachte, dass sie ihn zu Asche verbrennen würde, wenn er sich dem in den Weg stellte, was sie für nötig hielt. Zum ersten Mal sah er die Herrin des Todes mit den Augen derer, die ihr im Weg gestanden und das ganze Ausmaß ihres Zorns zu spüren bekommen hatten.
»Eure Liebe für Euren Enkelsohn macht Euch blind. Er ist viel mehr als das.«
»Meine Liebe für ihn kann nich-«
Nicci wies abrupt mit gestrecktem Arm nach Osten, nach D’Hara. »Diese Schwestern der Finsternis haben die Feuerkettenreaktion ausgelöst, die sich nun ungehindert durch Euer Erinnerungsvermögen frisst. Diese Reaktion bedeutet weit mehr als nur den Verlust unserer Erinnerung an Kahlan.
Mit jedem Augenblick löst sich unser Wissen darüber auf, wer wir sind, was wir sind und sein werden. Es geht nicht nur darum, dass wir Kahlan vergessen haben. Der Mahlstrom dieses Banns wird täglich mächtiger, der Schaden nimmt exponential zu. Das volle Ausmaß unseres Verlusts ist uns überhaupt nicht bewusst, dabei geht uns mit jedem Tag mehr verloren. Unser Verstand, unsere Denkfähigkeit, ja unsere Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln wird von diesem heimtückischen Bann untergraben.
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