Wenn sie doch nur auch meinen Geist heilen könnte, dachte Rabe, wenn sie mir meinen Kummer nehmen könnte, meine Trauer um meine Mutter – und um Harihn, nach dem ich mich sehne, obwohl er mich betrogen hat. Wenn sie mir doch nur die Schuldgefühle nehmen könnte, die mich quälen, seit ich sie und die arme Nereni betrogen habe … Aber unter dem Segen von Aurians heilender Berührung hatten nicht einmal solch bittere Gedanken die Macht, das geflügelte Mädchen zu peinigen. Vielleicht fand sie ja am Ende doch einen Weg, ihre Schuld zu sühnen, und man würde ihr verzeihen … Getröstet von diesem Hoffnungsschimmer, entschwebte Rabe in das Reich der Träume.
»So – fertig.« Aurian straffte ihren schmerzenden Rücken und rieb sich die letzten Spuren des blauen Maguschlichts von ihren Händen, die mittlerweile vor Müdigkeit und Anspannung zitterten. Das Zusammenflicken von Rabes komplizierten Flügeln war die schwierigste Heilung, die sie je unternommen hatte. Während sie sich ihre brennenden Augen rieb, warf die Magusch einen Blick aus dem Fenster. Obwohl es draußen immer noch dunkel war, konnte sie dieses seltsame Leuchten in der Luft spüren und die Stimmung, die immer herrscht, wenn die Nacht sich der Morgendämmerung entgegenstreckt.
Aurian wandte sich vom Fenster ab und bemerkte erst jetzt, daß niemand ihr eine Antwort gegeben hatte. Rabe schlief bereits. Shia und Khanu schliefen ebenfalls, eng aneinandergeschmiegt in einer Ecke, schwarz die eine Katze, schwarzgold gescheckt die andere. Yazour stöberte hinter den bestickten, schweren Vorhängen und spähte in die Nischen hinein, die sich dahinter verbargen. »Irgendwo in diesem Zimmer muß doch etwas Wein zu finden sein«, murmelte er. Cygnus und Elster starrten fassungslos auf Rabes Flügel. »Unmöglich!« flüsterte der junge Arzt.
Elster schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach sie ihm. »Es war wahrhaftig ein Wunder.« Zum ersten Mal lächelte sie Aurian mit echter Wärme an. »Lady, wie können wir dir je dafür danken, daß du unsere Königin gerettet hast?«
Die Magusch sah sie schmunzelnd an. »Nun, für den Anfang wären etwas Eßbares, Wein und ein warmes Bett gar nicht so schlecht.« Nachdem sie so viel Energie auf die Heilung von Rabes Schwingen verwandt hatte, konnte sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. »Morgen«, fügte sie trocken hinzu, »spreche ich mit Rabe und werde euch dann sagen, was ihr sonst noch für mich tun könnt.«
»Was jetzt, Aurian?« Yazour, der sich gerade schwungvoll auf die spindeldürre Couch hatte fallen lassen wollen, warf einen besorgten Blick auf das zarte Möbelstück und setzte sich behutsamer als ursprünglich geplant nieder. Die Magusch zog sich ihre abgetragenen Stiefel von den Füßen und legte sich in die Mulde des seltsamen, kreisförmigen Bettes. »Laß mich erst essen und eine Weile ausruhen, und sobald wir etwas Tageslicht haben, werden wir versuchen, herauszufinden, was mit Anvar passiert ist.«
Sie streckte die Hand nach dem niedrigen Tischchen aus, das neben dem Bett stand, und nahm noch ein Stück von dem schweren, klumpigen Brot, das aus irgendwelchen Erdknollen gebacken zu sein schien. Sie schnitt eine Grimasse und schluckte einen Bissen hinunter. »Bei den Göttern, die haben hier wirklich nicht viel zu essen«, bemerkte sie. »Wenn die Geflügelten so verzweifelt sind, ist es kein Wunder, daß Schwarzkralle es geschafft hat, die Stadt unter seine Kontrolle zu bringen.«
Yazour grunzte schläfrig. Seine Augen waren bereits halb geschlossen, und Aurian beneidete ihn für einen flüchtigen Augenblick. Forral hatte ihr vor langer Zeit den alten Kriegertrick beigebracht, wie man auch den kürzesten Augenblick zu einem erholsamen Schlaf nutzen konnte. Aber obwohl das runde Turmzimmer mit seinen dicken, vor Zugluft schützenden Wandbehängen und mit seinen Wollteppichen und dem glühenden Eisenofen in der Ecke der wärmste Ort war, an dem sie sich seit ihrem Entkommen aus der Wüste aufgehalten hatte, und obwohl sie todmüde war, war sie sich sicher, daß sie keine Ruhe finden würde, bevor sie nicht wußte, wo Anvar war. Aurian nahm einen Schluck von dem dünnen, sauren Wein, der alles war, was man in Aerillia noch bekommen konnte, und sehnte sich vergeblich nach einer Tasse Liafa. Als eine Bewegung auf der Landeplattform die Ankunft Chiamhs anzeigte, hieß sie ihn mit unverhohlener Erleichterung willkommen.
Als das Windauge eintrat, öffnete Shia die schläfrigen Augen und war sofort hellwach. Die Katze war genauso begierig wie Aurian, herauszufinden, wo Anvar steckte. Chiamh klopfte sich ein paar Schneeflocken von seinem Mantel und stellte sich zitternd vor den Ofen, um sich die Hände zu wärmen. Die Magusch reichte ihm einen Becher Wein. »Hast du etwas herausgefunden?« fragte sie drängend.
Das Windauge zuckte mit den Schultern. »Ich habe tatsächlich Neuigkeiten – aber ob sie gut oder schlecht sind, das kann ich nicht sagen. Hast du schon von den Moldan gehört, Lady?«
»Du meinst diese riesigen Erdelementarwesen?« Aurian runzelte die Stirn. »Nur in alten Legenden über die Verheerung . Ich dachte, die alten Magusch hätten sie aus der Welt verbannt, genauso wie die Phaerie. Was haben sie denn mit der Sache zu tun?«
»Mehr als du denkst«, antwortete Chiamh. »Die Moldan wurden nicht aus der Welt gejagt, sondern lediglich gefangengenommen, und sie schlafen jetzt in den Bergen, die ihr irdisches Fleisch sind.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm, und seine kurzsichtigen, braunen Augen blinzelten ernst. »Aurian, die Moldan sind wieder erwacht. In meinem eigenen Land habe ich mehrmals mit dem Moldan des Windschleierbergs gesprochen. Und weißt du, was diese Wesen geweckt hat? Die Wiedererschaffung des Erdenstabs.«
Aurian starrte ihn entsetzt an. »Was? Du meinst, diese Kreaturen sind wieder auf freiem Fuß? Und das Ganze ist meine Schuld?«
»Nicht direkt auf freiem Fuß – zumindest nicht in dieser Existenz«, erwiderte Chiamh. »Aber sie sind jetzt wach und sehr mächtig – und nicht alle haben so gute Absichten wie mein Freund Basileus, der Windschleiermoldan.«
Aurian sah sein Zögern und schauderte. Schon jetzt hatte sie das ungute Gefühl zu wissen, wie seine nächsten Worte lauten würden. »Willst du mir damit sagen«, erkundigte sie sich mit leiser Stimme, »daß eins von diesen Elementarwesen hier in Aerillia ist?«
»Jawohl, genau das«, antwortete das Windauge grimmig. Der junge Mann brachte es kaum fertig, ihrem Blick standzuhalten. »Der Stab der Erde muß für ein solches Geschöpf eine unwiderstehliche Versuchung darstellen. Obwohl dieser Berg unverkennbar ein Moldan ist, so weilt sein Bewußtsein doch nicht auf dieser Welt. Ich fürchte, es durchstreift andere Reiche, die weit jenseits dieses irdischen Ortes liegen – und wenn du sagst, dein Freund sei nicht tot, dann fürchte ich, diese Kreatur hat Anvar mitgenommen, um ihm den Stab abzujagen. Und wenn sie Erfolg hat …« Das Windauge schauderte. »Wer weiß, was dann aus unserer armen Welt wird.«
26
Ein neuer Tag bricht an
Aurian lehnte sich gegen die eisige Steinbalustrade der Landeplattform und sah zu, wie der Himmel im Osten langsam hell wurde. In dem matten Zwielicht der Morgendämmerung sah die Stadt Aerillia fremdartig und geheimnisvoll aus mit ihren hohen Strebepfeilern und den sowohl schönen als auch grotesken Schnitzereien, mit den geschwungene Bögen, die den Stein aufs Geratewohl durchbrachen, mit den Türmen und Türmchen und dem absoluten Fehlen von Straßen oder irgendwelchen Gebäuden, die normal und eingeschossig waren und dem menschlichen Auge das Gefühl von Vertrautheit vermittelt hätten.
Die Magusch schob die Kapuze ihres Umhangs zurück und zitterte, während der eisige Morgenwind die Spinnweben der Müdigkeit aus ihrem Kopf vertrieb. Sie versuchte verzweifelt, sich auf eine Möglichkeit zu besinnen, wie sie Anvar rechtzeitig zu Hilfe kommen konnte – wenn es nicht schon zu spät war. Er befand sich bereits jenseits der Grenzen der irdischen Welt, und wenn er dort starb, würde sie es nicht spüren. Unglücklich ließ Aurian den Kopf auf ihre ausgestreckten Arme sinken. »Du verflixter Kerl, Anvar«, seufzte sie. »Warum mußtest du das tun, gerade als ich mir endlich eingestanden habe, daß ich dich liebe?«
Читать дальше