Die Beschimpfungen blieben ihr in der Kehle stecken, als sie nicht übermäßig sanft auf einem Haufen grausam scharfkantiger Steine abgesetzt wurde. Diese verdammten Geflügelten! dachte sie mürrisch und versuchte, sich aus den verhedderten Maschen zu befreien. Sie mußten uns doch eigentlich erwarten. Warum hat niemand Lampen hergebracht? Ihre Eskorte schien ähnlich zu denken, wenn man von den deftigen, wenig schmeichelhaften Ausdrücken ausging, die sie in der Sprache der Himmelsleute vor sich hin murmelten. Als es Aurian gelungen war, sich aus dem Netz zu befreien, sah sie etwa ein halbes Dutzend Laternen vor sich, ein schwaches Funkeln in den schier undurchdringlichen Nebelschwaden; winzige Lichter, die aus Bodenhöhe auf sie zugehüpft kamen.
In dem allmählich stärker werdenden Licht erkannte die Magusch Chiamh und Yazour, die sich nun ebenfalls aus ihren Netzen herauswanden, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung. In dem dichten Nebel war kaum etwas zu erkennen, aber Aurian konnte doch die hoch aufragenden Trümmer zerbrochener Säulen über gewaltigen Schutthaufen ausmachen. Sie erkannte den zerstörten Tempel wieder, den sie gesehen hatte, als ihr Geist mit Chiamh auf dem Wind nach Aerillia geritten war.
Für weitere Gedanken blieb jedoch keine Zeit. Die Delegation der Himmelsleute näherte sich ihnen. Zwischen vier bewaffneten Soldaten kamen zwei Gestalten auf sie zu – eine alte Frau mit starken Wangenknochen und einem entschlossenen Gesichtsausdruck; ihre Flügel und ihr Haar zeigten ein dramatisches Muster aus Schwarz und Weiß. Neben ihr ging ein bleicher Mann mit weißen Schwingen und dunklen Schatten der Schlaflosigkeit unter den Augen; ein schneeweißer Haarschopf strafte das jugendliche Aussehen seines Gesichtes Lügen.
Die Soldaten zogen sich zurück, als die beiden auf die Magusch zugingen, ihre Köpfe zum Gruß neigten und ihre Schwingen ausbreiteten – eine Geste, die bei den Himmelsleuten eine Verbeugung andeutete. »Lady Aurian«, sagte die Frau. »Ich bin die Meisterärztin Elster. Königin Rabe hat uns geschickt, damit wir dich begrüßen. Sie kann das Bett nicht verlassen – nicht mit so schwer verletzten Flügeln.« Sie warf einen Blick nach hinten, um sicherzugehen, daß die Wachen sie nicht hören konnten. »Es wäre auch nicht klug«, fügte sie leise hinzu, »wenn sie in ihrem augenblicklichen Zustand in der Öffentlichkeit erschiene. Dank der unerwarteten Hilfe eines umherschweifenden Kindes, das für Cygnus eine Botschaft überbracht hat« – sie zeigte auf ihren weißhaarigen Begleiter – »weiß das Volk von Aerillia, daß Schwarzkralle die Königin gefangengehalten hat. Sie wissen jedoch nicht, daß sie nicht mehr fliegen kann und daher eigentlich auch nicht mehr herrschen dürfte. Sollte das herauskommen, würde es mit Sicherheit Schwierigkeiten geben, denn dieser harte Winter geißelt uns nach wie vor, und nicht alle unsere Leute waren gegen den Hohenpriester. Einige sahen in ihm den Vorboten eines goldenen Zeitalters, in dem die Himmelsleute ihre alte Macht wiedererlangen würden.« Sie warf ihre Hände mit einer Geste der Verzweiflung in die Luft.
»Lady, wir stehen am Rande eines Bürgerkriegs, und nur du kannst uns retten.«
Aurian dachte an den Tod der heldenhaften Hreeza und an Shias Trauer. Sie erinnerte sich auch an den Stapel Katzenfelle, den die Geflügelten in Incondors Turm gebracht hatten, wo man sie – durch Rabes Verrat – gefangengenommen hatte. In diesem Augenblick kümmerte es sie wenig, ob die Zivilisation der Himmelsleute zusammenbrach oder nicht … Davon abgesehen, brauchte sie jedoch alle Hilfe gegen Miathan, die sie bekommen konnte. Und als Preis dafür, daß sie Rabe half, konnte sie dem Abschlachten der Katzen ein für allemal ein Ende bereiten und vielleicht Frieden zwischen den beiden verfeindeten Völkern schaffen.
Aurians Miene hellte sich auf. Wenigstens war Shias arme Freundin dann nicht umsonst gestorben. Die Magusch, die sich plötzlich viel besser fühlte, wandte sich wieder an Elster. »Natürlich werde ich euch helfen«, versprach sie, »aber bevor ich zu Königin Rabe gehe, muß ich einige meiner Freunde finden.« Der weißhaarige Cygnus machte eine Bewegung, als wolle er protestieren, aber Aurian brachte ihn mit einem stahlharten Blick zum Schweigen. »Sobald ich meine Freunde gefunden habe – und keine Sekunde früher«, sagte sie fest. »Und jetzt zeigt mir den Weg zu den Korridoren, die unter dem Tempel liegen.« Sie winkte ihre Kameraden heran. »Chiamh, Yazour, kommt bitte mit.«
Aurian hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie einen Schrei hörte: »Ich komme!« Plötzlich wurde die Magusch von einem gewaltigen, flammenäugigen Schatten, der schwärzer als die Dunkelheit war, zu Boden geworfen. Im Fallen sah Aurian aus den Augenwinkeln noch eine weitere Katze, die kurz vor ihr stehengeblieben war – Shia lag auf ihr und schnurrte wie herannahender Donner, während sie ihr dunkles Maul an Aurians Gesicht rieb und ihre Freundin umarmte.
»Nein!« Die Stimme gehörte Chiamh. Ihr folgte ein herzzerreißender, schriller Schrei. Als die Magusch und Shia auseinandersprangen, sah Aurian die geflügelten Krieger, die in die Hocke gegangen waren, um ihre Bögen zu spannen. Das Windauge stand zwischen den Katzen und den zu Tode erschrockenen Himmelsleuten, und in seinen Augen flackerte leuchtendes Silber, das das unruhige Fackellicht widerspiegelte, während seine Hände die nebelschwere Luft zu Schleifen zu binden schienen. Hoch über den Geflügelten ragte die gräßliche Gestalt eines Dämons auf.
»Laßt die Waffen fallen«, rief Chiamh, »oder meine Kreatur wird euch angreifen!« Als Schwerter und Armbrüste zu Boden fielen, sah das Windauge Aurian an. »Lady, sie waren drauf und dran, deine Freunde zu töten«, knurrte er. Heißer Zorn durchfuhr die Magusch, aber sie hatte keine Zeit, sich ihren Gefühlen hinzugeben. Sie konnte den Druck auf Chiamhs Gesicht sehen, während er versuchte, seine grauenerregende Erscheinung in der fast windstillen Luft aufrechtzuerhalten. Aurian blickte mit einem Schaudern zu dem Dämon hinauf. Er sah für ihren Geschmack den Todesgeistern viel zu ähnlich.
Sie wandte sich an die am Boden knienden Himmelsleute. »Wenn irgend jemand diesen Katzen auch nur ein Haar krümmt, werden wir den Dämon, den ihr da vor euch seht, auf eure Stadt loslassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Wie du es wünschst, Lady. Ich gebe mein Wort darauf, daß man den Tieren nichts tun wird.« Elster war aschfahl, und ihr Gesicht glühte vor Zorn, aber Aurian nahm an, daß dieser Zorn nicht ihr, sondern den Wachen mit ihren Armbrüsten galt. Und tatsächlich drehte Elster sich sofort um und stürzte sich mit wüsten Beschimpfungen auf die Bogenschützen. Aurian lächelte. Sie wußte, daß sich hinter dem Zorn der alten Frau furchtbare Angst verbarg.
Mit einem erleichterten Seufzer ließ Chiamh die Luftstränge los, aus denen er sein Ungeheuer gebildet hatte, und das Silber floß aus seinen Augen heraus. Aurian legte ihm stützend einen Arm um die Schultern, denn sie sah, daß er fast völlig erschöpft war. »Ich danke dir, mein Freund«, sagte sie leise.
Das Windauge sah Shia an, und seine braunen Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Als du mir von der Katze erzähltest, die deine Freundin ist, hatte ich ja keine Ahnung, daß du einen von den tollwütigen schwarzen Geistern unserer Berge meintest!«
»Tollwütig!« bemerkte Shia spitz. »Daß ich nicht lache! Alles, was wir von deinesgleichen je zu sehen bekommen haben, waren Speere und Pfeile – und das seit dem ersten Tag, an dem ihr in unsere Berge eingedrungen seid und uns unser Land gestohlen habt! Es stimmt schon, die meisten Mitglieder deines Volkes haben weder den Verstand noch die nötigen Mittel, um mit uns zu sprechen, aber du und deine Vorfahren, ihr wäret dazu noch in der Lage gewesen!«
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