»Ich kann es einfach nicht glauben!« explodierte Anvar mit einem Zorn, der es mit Aurians schlimmsten Wutanfällen aufnehmen konnte. Unter wilden Flüchen stieg er hinab, begleitet von düsteren, haßerfüllten Gedanken an den umnachteten Idioten, der nicht in der Lage gewesen war, einen direkten Weg, einen waagerechten Tunnel durch das Gestein auf dem Grund der Insel zu erschaffen.
Anvars Nörgeleien endeten abrupt, als ihm klar wurde, daß er sich überhaupt nicht mehr auf der Insel befand. Am Fuße der Treppe fand er sich plötzlich inmitten eines Waldes wieder. Es war ein vollkommener Wald – geschnitzt aus Stein. Der Magusch blieb mit offenem Munde stehen. Die Illusion war makellos. Jeder Ast, jeder Zweig, jedes zarte Jadeblatt war raffiniert und vollendet geschnitzt bis hin zu dem winzigsten Detail. Steinvögel hockten hier und dort, mit offenen Schnäbeln, als wären sie mitten in ihrem Gesang versteinert, und ihre Flügel waren halb geöffnet, als wollten sie gerade die Flucht ergreifen. Winzige Granitraupen schlängelten sich über die zarten Äste. Blüten aus durchscheinendem Quarz öffneten sich an den Zweigen, und ein kühles, silbriges Licht sickerte durch die Bäume, ein Licht, dessen Quelle durch das Spitzenwerk der Blätter verborgen blieb.
Die Stimme, die dann endlich ertönte, war weiblich und überaus ungewöhnlich: Nicht alt, nicht jung, gelang es ihr, beschwingt und melodisch zu klingen und doch zur gleichen Zeit auch tief, hart und krächzend.
»Willkommen im Wald, im Herzen des Steins – oder im Stein, im Herzen des Waldes. Wie immer du willst«, kicherte die unheimliche Stimme. »Komm, junger Zauberer, immer der Nase nach, denn an diesem Ort führen alle Wege zu mir.«
Das Gefühl von Macht in dieser Stille war überwältigend. Obwohl Anvars sämtliche Instinkte aufschrien und ihn zur Flucht drängten, wußte er, daß es doch kein Zurück gab. Mit einem kurzen Achselzucken ging er weiter, weiter und weiter, durch endlose Reihen von Bäumen hindurch.
Steinerne Stämme, steinerne Aste, Vögel und Insekten – alle waren deutlich und unheimlich in dem trügerisch flackernden Licht zu erkennen, das von irgendwo über dem Wald kam. Der Magusch war voller Ehrfurcht für die Größe dieses Ortes, als wäre er nur ein kleines Kind, das sich in die Säulenhalle eines großen Regenten verirrt hatte. Obwohl die Magie dieses zeitlosen Waldes ihm Hunger und Durst ersparte, wurden seine Beine langsam schwach, und seine Füße hämmerten in seinen Stiefeln. Anvar versuchte, diese Unbequemlichkeiten zu ignorieren. Er mußte wachsam bleiben und sich auf die kommende Begegnung vorbereiten.
Plötzlich hörte der Wald auf. Anvar taumelte hinaus in einen riesigen, offenen Raum – eine gewaltige Höhle vielleicht, obwohl es schwer war, den Ort genau zu beschreiben, denn er war so groß, daß seine Grenzen – falls er überhaupt Grenzen hatte – in weiter Ferne in der Dunkelheit untergingen. Der Boden war mit einer Art Moos überwuchert, das aus winzigen, kribbelnden Stacheln bestand. Es war so etwas wie ein kristallisiertes Mineral, das den ganzen sanft geschwungenen Hügel bedeckte, der sich vor ihm erhob. Auf dem Gipfel stand der gewaltigste Baum, den Anvar je gesehen hatte, sein Umfang war größer als der des riesigen Wetterdoms der Akademie, sein Stamm viel größer als der Maguschturm. So groß war er, daß er sich in der Dunkelheit hoch über Anvar verlor. Der Magusch hatte nun endlich auch die Quelle des verwirrenden, silbernen Lichts gefunden, das den Wald erhellte. Dem Baum war ein reiches Leuchten eigen, das aus seinem Innern kam, als sei er mit gefangenem Mondlicht erfüllt.
Die ungeheuren Ausmaße dieses alten Titanen überwältigten Anvars Sinne. Um seine Gedanken ein wenig zu ordnen, betrachtete er nur den unteren Teil des Baums und konzentrierte sich auf Einzelheiten. Stein oder Holz? Obwohl der Magusch ganz nah heranging, war es ihm unmöglich, das herauszufinden. Das Material des Baums war von der gleichen dumpfen, grauen Körnigkeit wie sie auch die geschnitzte Tür Zwischen den Welten aufwies, durch die er zum Brunnen der Seelen gelangt war.
»Gut beobachtet, o Zauberer! Das Portal des Brunnens der Seelen wurde tatsächlich aus einem Zweig dieses Baumes geschnitzt. Aber wie kommt es, daß du diesen gefährlichen Weg gegangen bist? Und warum bist du immer noch hier und kannst dich daran erinnern?«
Anvar, den die Stimme erschreckt hatte, blickte zu dem Baum hinauf. Und dort, etwa drei Manneshöhen vom Boden entfernt, wo es vorher nichts gegeben hatte als den glatten und ausdruckslosen Stamm, befand sich jetzt eine Tür, eine runde Tür, die einem Astloch im Holz ähnelte. Eine grobe Treppe, scheinbar ein natürlicher Teil des Baums und nicht künstlich angelegt, schien sich in gewaltige Höhen zu strecken. Die Treppe wurde nach oben hin breiter und bildete einen Treppenabsatz und eine Plattform vor dem Eingang.
Die Tür schwang langsam auf. Dort, eingehüllt in das schimmernde, goldene Licht, das aus dem Innern des Baums leuchtete, stand ein … Anvar blinzelte und rieb sich die Augen. Die Gestalt war ein Adler – nein, ein altes Weib … Nein. Es war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Die trügerische Gestalt war von Kopf bis Fuß in einen Umhang aus schwarzen Federn, einer weißen Kapuze und einem weißen Saum gehüllt. Eine Sekunde lang verschwamm Anvars Blick, und er sah einen Igel, dann wieder eine Frau. Ihr Gesicht erkannte er nun; er hatte es bereits auf der Schnitzerei im Tunnel auf dem Weg zum Zeitlosen See gesehen. Was er für eine Kapuze aus weißen Federn gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine wirbelnde Mähne aus schneeweißem Haar. Ihre Augen … Anvar hatte erwartet, daß sie dunkel sein würden wie die eines Falken oder golden wie die eines Adlers, aber statt dessen waren sie ganz bleich, beinahe farblos, so daß sie sich ganz dem weißen Gesicht und dem wintrigen Haar anpaßten. Diese Augen richteten sich jetzt mit beunruhigender Festigkeit auf den Magusch.
»Nun? Ich habe dir eine Frage gestellt. Wie ist es möglich, daß du das Todesportal durchschritten und überlebt hast?«
Angesichts der Ungeduld der Cailleach mußte Anvar sich mit aller Kraft bemühen, seine durcheinander geratenen Gedanken wieder zu sammeln. Er verbeugte sich tief, bevor er antwortete. »Herrin, ich denke, du kennst die Antwort auf deine Frage bereits. Hast du nicht, während ich wie gebannt vor deinem Bild im Tunnel stand, alles erfahren, was ich weiß, und alles, was ich je erlebt habe?«
»Wie gebannt, hm?« Die Mondsteinaugen hatten plötzlich einen Glanz, der voller Zustimmung war – und voll von etwas anderem. »Du hast nicht nur eine gute Beobachtungsgabe, du hast auch einiges Talent im Umgang mit Worten, junger Zauberer. Und natürlich hast du recht. Ansonsten hätte ich vielleicht gedacht, du seiest gekommen, um mich aus meinem einsamen Exil zu befreien.« Ihr kurzes Lächeln erstarb, noch bevor es ihre Augen erreichen konnte, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder kalt. »So, wie die Dinge liegen, bin ich mir wohl bewußt, daß du gekommen bist, um mir die Harfe zu stehlen.«
»Zu stehlen, Herrin?« Anvar versuchte, seine Angst nicht zu zeigen. »Das sind harte Worte. Ich hoffte allerdings, dich überreden zu können, sie mir zu überlassen. Sie wurde von Magusch in der irdischen Welt angefertigt, und dorthin gehört sie auch. Ich muß sie unbedingt haben, um meine Welt vor dem Bösen zu retten.«
»Was? Was willst du tun? Und ganz allein? Bist du also ein großer Held, der eigens dazu gemacht wurde, die Welt zu retten?« Sie versuchte nicht einmal, den Hohn in ihrer Stimme zu verbergen. Anvar, der eine überstürzte Erwiderung nur mit Mühe unterdrücken konnte, hatte sich gerade noch rechtzeitig wieder unter Kontrolle. Es würde ihm nichts nützen, wenn er vergaß, wie mächtig und wie gefährlich dieses Geschöpf in Wahrheit war.
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