Das war nur eines von Aurians Problemen. Bevor die Himmelsleute zurückkehrten, um sie nach Aerillia zu tragen – was sie hoffentlich tun würden –, mußte sie den Schwertmeister und seine Frau irgendwie beruhigen und außerdem für die Zeit ihrer Abwesenheit eine Nahrungsquelle für ihr Kind finden. Es blieb auch noch die Frage zu klären, was mit den überlebenden Soldaten von Harihn geschehen sollte, die zur Zeit dank dem Kavalleriehauptmann und seiner merkwürdigen Armee sicher im Kerker eingeschlossen waren. Und wie würden Parric und die Xandim in ihre Pläne passen? Mit einem schiefen Lächeln erinnerte Aurian sich an den Rat, den Forral ihr vor so langer Zeit einmal gegeben hatte: » Mach immer nur einen Schritt gleichzeitig und kümmere dich um das Wichtigste zuerst. Dann wirst du in aller Regel feststellen, daß der Rest sich ganz von allein regelt .«
Unbewußt nahm die Magusch die Last der Verantwortung wieder auf, die sie in der Zeit, in der sie ohne ihre Kräfte gewesen war, abgelegt hatte. »Genau!« sagte sie entschlossen. »Yazour, ich möchte, daß du jetzt sofort mit Harihns Soldaten sprichst. Du hast sie früher befehligt – sie sollten dir eigentlich immer noch vertrauen. Nach dem, was Parric sagt, kann nicht einmal er als Rudelfürst die Xandim dazu bewegen, ihren Feinden Zuflucht zu bieten, aber noch ist nicht alles verloren. Viele von ihnen haben Menschen, die ihnen am Herzen liegen, im Wald zurückgelassen, und das Land zwischen der Wüste und den Bergen ist reich und sicher. Sag ihnen, daß wir sie freilassen, wenn wir aufbrechen, und daß sie in den Wald zurückkehren und sich dort niederlassen sollen.« Einen Augenblick lang leuchtete ihr Gesicht auf, und ein schelmisches Lächeln zeigte sich in ihren Zügen. »Wer weiß – wir sind vielleicht verantwortlich für die Gründung eines ganz neuen Königreiches!«
»Lady, vielen Dank!« Die Erleichterung in Yazours Gesicht war unübersehbar. Aurian wußte, daß er sich über die Leute, die in Harihns Diensten geblieben waren, Sorgen machte. Schnell wie der Blitz war er verschwunden und lief zu den Kerkern hinunter.
Was ihren Sohn betraf … Aurian trat allein hinaus in das Dickicht das den Turm umgab, und sandte ihren Willen aus, um noch einmal die Wölfe herbeizurufen.
Das Rudel hatte sich nicht weit vom Turm entfernt und war binnen wenigen Sekunden bei der Magusch. Nach einer kurzen Besprechung mit dem Leitwolfpaar fand Aurian ein anderes Paar – denn Wölfe hatten, wie Falken, einen Lebensbund und blieben für immer beieinander –, das bereit war, seine Brüder zu verlassen und mit Menschen zusammenzuleben, um dabei zu helfen, ihren kleinen Sohn aufzuziehen. Obwohl die Wölfe gerade keinen eigenen Welpen hatten, machten Aurians heilende Kräfte es dem Weibchen schon bald möglich, die Milch zu produzieren, die das kleine Junge brauchte. Nachdem Aurian sich mit von Herzen kommenden Dankesworten von den Rudelführern verabschiedet hatte, kehrte sie zum Turm zurück; Wolfs neue Pflegeeltern glitten wie schweigende Schatten hinter ihr her.
Leider war es schwieriger, als sie gedacht hatte, Eliizar und Nereni von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Nur die Drohung, den Kleinen bei dem Wolfsrudel draußen in der Wildnis zu lassen, gab schließlich den Ausschlag. Nerenis Zweifel lösten jedoch das Problem Bohan. Aurian wollte ihn nicht mit nach Aerillia nehmen, hatte aber erwartet, daß sie große Schwierigkeiten haben würde, ihn dazu zu bringen, noch einmal von ihrer Seite zu weichen, und sie wollte auf keinen Fall seine Gefühle verletzen. Aber so, wie die Dinge lagen, hatte der Eunuch sich bereits mit wildem Beschützerdrang dem Wolfling zugewandt und war nur allzugern bereit, als seine Leibwache zurückzubleiben.
Zum Schluß blieb nur noch Parric, der vor Wut schäumte, weil er als Rudelfürst gezwungen war, bei den Xandim zu bleiben, und nicht mit Aurian nach Aerillia kommen durfte. Als sie auch dieses letzte Problem gelöst hatte, war sie die ewigen Auseinandersetzungen von Herzen leid und hatte nichts anderes mehr im Sinn als ihre Angst um Anvar. Um sich ein wenig abzulenken, heilte sie Yazour und ebenso Eliizar (trotz seines offensichtlichen Widerwillens), Bohan und Elewin, der noch immer unter den Nachwirkungen der langen, hastigen Reise durch die Berge litt, die er mit den Xandim unternommen hatte. Parric hatte den alten Haushofmeister eigentlich in der Festung zurücklassen wollen, aber Chiamh und Sangra waren dagegen gewesen. Nicht alle Xandim hatten sich Parrics Streitmacht angeschlossen, und nicht alle waren von seinem Recht auf den Titel des Rudelfürsten überzeugt. Hätten sie Elewin in der Festung zurückgelassen, hätte er die Rückkehr seiner Freunde wahrscheinlich nicht mehr erlebt. Nun beharrte er stur darauf, daß allein das Wiedersehen mit Aurian ihn um Jahre jünger gemacht hätte. Aurian wußte jedoch, daß er zutiefst enttäuscht darüber war, nicht auch Anvar wiedergefunden zu haben, und daß er ihre Sorge um das Schicksal des verschwundenen Magusch von ganzem Herzen teilte.
Nereni hatte eine Mahlzeit zubereitet, und während des Essens, das sie in dem engen Turmzimmer gemeinsam einnahmen, hatten die Kameraden endlich die Chance, einander zu erzählen, was ihnen in der langen Zeit ihrer Trennung widerfahren war. Aurian freute sich über ihr Wiedersehen mit ihren lange entbehrten Freunden, und ihre Freude steigerte sich noch, als sie das Sausen von Schwingen hörte, das die Rückkehr der Himmelsleute verhieß.
Die Brücke der singenden Sterne war ein funkelnder, zarter Regenbogen, der sich von der Küste bis zur Insel über die dunklen Wasser des Zeitlosen Sees erstreckte. Wie Anvar erwartet hatte, waren die Sterne unter seinen Füßen so hart wie Steine. Was er jedoch nicht erwartet hatte, war ihre Reaktion auf die Berührung durch seine Füße. Mit jedem Schritt, den Anvar auf die Brücke setzte, gaben die Sternensteine unirdische Klänge von sich. Jeder Schritt schlug einen anderen Akkord an, bis Anvar feststellte, daß er seine Schritte mit Bedacht wählte, hier und dort verschieden betonte; er schuf auf dieser magischen Brücke sein eigenes Lied: seine Seelenmelodie.
Je näher Anvar der Insel kam, um so tiefer empfand er die Gegenwart eines gewaltigen, mächtigen, nachdenklichen Wesens auf der anderen Seite. Je näher er kam, um so mehr nahm sein Selbstgesang feste Gestalt an und um so wacher schien das Wesen zu werden, das die Musik, die er schuf, hörte und billigte.
Die Brücke endete auf der Insel auf einem dunklen Steinsockel. Mit einem schmerzhaften Ruck mußte sich der Magusch von der Brücke aus Gesang losreißen. Augenblicklich verstummte die Musik. Die Stille wirkte wie ein Hammerschlag. Vor Anvars entsetzten Augen begann die Brücke zu schimmern und zu zittern, bis sie sich schließlich mit einem sanften Seufzen auflöste. Ein Sternenregen ging auf den See nieder, überzog seine Oberfläche mit Dunstschleiern und ließ nichts zurück als eine schmerzliche Leere in den Tiefen von Anvars Seele. Traurig wandte Anvar sich von der zerstörten Idylle ab und erblickte vor sich einen Pfad, der von dem Sockel nach oben führte und schließlich hinter einer Biegung verschwand. Der Magusch seufzte, stützte sich schwer auf den Stab der Erde und begann, den Pfad zu erklimmen. Der Weg, der in den zerklüfteten Felsen hineingeschnitten war, als wäre der Stein so weich wie Butter, schlängelte sich steil nach oben. Er schien endlos zu sein. Dem Magusch wurde schwindlig, und als er oben angekommen war, rang er keuchend nach Luft. Der Pfad endete abrupt vor einem letzten, steilen Turm – und dem schwarzen Eingang einer Höhle. Anvar spürte ein Kribbeln von Magie in seinen Fingern und hob die wieder von flackerndem, blauen Maguschlicht umhüllte Hand, um so seinen Weg in die Höhle hineinzufinden.
Es erwies sich von Vorteil, daß er das Licht hatte. Nachdem er ein paar Schritte ins Innere der Höhle gegangen war, endete sie abrupt vor einer undurchdringlichen Wand – und einem klaffenden Abgrund, der vor seinen Füßen tief in die Dunkelheit hinabstürzte. Mit wild hämmerndem Herzen kniete Anvar vorsichtig am Rand nieder. Das glänzende, blaue Licht ließ eine Wendeltreppe erkennen, die in den Felsen hineingehauen war und in das Herz der Insel hinunterführte.
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