Mittlerweile war die Insel vollends aufgetaucht, und das Wasser begann sich zu beruhigen. Dann tauchte auch Anvars Kiesstreifen wieder auf, nur daß er sich inzwischen verändert hatte. Das Tal wurde ebenfalls wieder still, aber ohne sein früheres Gefühl von Frieden. Jetzt war die Atmosphäre angespannt und voll brütender Erwartung.
Anvar wartete … und wartete, bis er die Spannung nicht länger ertragen konnte. Es schien, als müßten Zeit und Wirklichkeit zerbrechen, als schwirrten sie wie eine straff gespannte Sehne. Dann erinnerte der Magusch sich daran, wie Aurian den Stab der Erde gewonnen hatte und was sie ihm von ihrer Begegnung mit dem Drachen erzählt hatte. Nichts war geschehen, bis sie selbst die Initiative ergriffen und den Bann gebrochen hatte, der den goldenen Feuermagusch aus der Zeit genommen hatte …
Anvar holte tief Luft. Es war offensichtlich, daß die Cailleach sich seiner Gegenwart bewußt war. Der nächste Schritt mußte dann also bei ihm liegen. »Herrin, ich bin hier!« rief er. »Im Namen der alten Magusch, der Zauberer, die du einst beschützt hast, grüße ich dich!«
Er bekam keine Antwort – zumindest nicht in einer menschlichen Sprache. Statt dessen wehte, gerade als Anvar sich zu fragen begann, was er als nächstes tun sollte, ein Klang von hauchzarter Musik über den See zu ihm herüber. Die fremde Musik war so wild, so ätherisch, so herzzerreißend schön, daß der Magusch spürte, wie seine Kehle sich zusammenschnürte. Tränen strömten über sein Gesicht, und ohne zu wissen, was er tat, wischte er sie sich mit einer unbewußten Nachahmung von Aurians kindlicher Geste mit dem Ärmel ab.
Es war die Musik einer Harfe. Während jede Note klar und vollkommen über das dunkle Wasser glitt, wurde sie für Anvar sichtbar; ein Wasserfall aus Musik, wie ein Sternschnuppenregen, und jede kristallene Note ein klarer und vollkommener Punkt aus Licht. Der Magusch sah verloren in tiefem Staunen zu, wie sich plötzlich eine Brücke aus Gesang über den stillen Tempel wölbte.
Als die letzten zauberhaften Takte erklangen, fiel eine weitere Schar von Sternen auf den steinernen Strand nieder, berührte den Boden und blieb dort liegen. Der Magusch holte tief Luft, schloß seine Finger fest um den Erdenstab und trat auf die Brücke aus Sternen.
Das Windauge klopfte Aurian unbeholfen auf die Schulter, und sie war ihm dankbar für diese Geste des Verständnisses. »Du sagtest, dein Begleiter, die andere helle Macht, sei in Aerillia?« fragte er sie. Die Magusch nickte, und trotz ihrer Besorgnis konnte sie sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen angesichts seiner Beschreibung von Anvar. Sie hatte eine augenblickliche Zuneigung zu diesem rundgesichtigen, scheuen, jungen Seher mit dem freundlichen Lächeln gefaßt.
»Du hast vorhin gesagt, daß du mir vielleicht helfen könntest. Aber wie?« fragte sie.
»Ich werde meine Andersicht benutzen, um auf dem Wind nach Aerillia zu reiten«, sagte das Windauge zu ihr. »Dort sollte ich mit einigem Glück in der Lage sein, deinen Begleiter zu finden.«
Aurian sah voller Erstaunen zu, wie das Silber Chiamhs Augen überflutete. Er lehnte an der Brüstung und entspannte sich, während aller Ausdruck aus seinen Zügen wich, und die Magusch begriff, daß sein Bewußtsein seinen Körper verlassen hatte. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie atmete tief durch, entspannte ihren eigenen Körper und schlüpfte mühelos aus ihrer irdischen Gestalt.
Chiamh schwebte immer noch über dem Turm: ein goldener Wirbel leuchtenden Lichts. Sie sah sein erstauntes Flackern, als er ihre Gegenwart spürte. »Kannst du mich hören?« fragte Aurian ihn. In ihrer körperlichen Gestalt hatte sie nicht daran gedacht, sich mit dem Windauge mittels Gedankenrede zu unterhalten, und einen Augenblick lang hatte sie doch gewisse Zweifel, was das Ausmaß seiner Fähigkeiten betraf.
»Ja, Herrin!« Seine Gedankenstimme klang klar und freudig. »Wie wunderschön du aussiehst: ein Wesen aus Licht, ganz so, wie ich dich das erste Mal in meiner Vision gesehen habe.«
In ihrer Furcht um Anvar hatte die Magusch wenig Zeit für Komplimente, wie nett sie auch sein mochten, aber sie konnte dem Seher nicht böse sein. »Ich habe mich gefragt, ob du – ob du mich wohl mitnehmen würdest, wenn du auf dem Wind nach Aerillia reitest?« erkundigte sie sich zaghaft.
»Wir können es ja versuchen.« Als strecke er seine Hand nach ihr aus, hielt Chiamh ihr einen glitzernden, leuchtenden Tentakel hin, und Aurian streckte ihrerseits einen ähnlichen Fühler aus ihrem eigenen Wesen aus, um ihn zu berühren. Die beiden trafen sich in einem Aufleuchten warmen Lichts, und plötzlich nahm die Magusch die Welt so wahr, wie Chiamh sie mit seiner Andersicht sah. Sie keuchte vor Erstaunen, als sie die Berge wie durchsichtige, glitzernde Prismen sah und die Winde wie lebendige Flüsse aus fließendem Silber.
»Bist du bereit?« Chiamhs Stimme hallte stolz durch ihre Gedanken, und Aurian wußte, daß er ihr Entzücken gespürt hatte.
»Ich bin bereit«, erwiderte sie.
»Dann halt dich gut fest!« Das Windauge streckte einen weiteren, leuchtenden Fühler aus und ergriff ein Band des silbrigen Windes. Im nächsten Augenblick ritten sie auch schon auf einem Strom aus Licht mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Berge.
»Das ist einfach herrlich«, rief Aurian glückselig. Da sie, während sie einander berührten, ganz auf Chiamhs Gedanken eingestellt war, konnte sie auch seine Freude über den wilden, belebenden Ritt spüren.
»Ich habe gar nicht gewußt, daß es so sein kann«, erwiderte er. »Früher bin ich immer allein gereist, und es war einsam und manchmal erschreckend. Aber das hier … Herrin, was für ein Geschenk du mir gemacht hast! Ich werde mich nie wieder vor meiner eigenen Macht fürchten!«
Aurian war froh, daß sie ihm geholfen hatte, denn auch er hatte ihre Erfahrungen bereichert, indem er sie auf diese Reise mitgenommen hatte. Es war eins der unglaublichsten Gefühle in ihrem Leben, nur beeinträchtigt durch den Schatten der Sorge um Anvar und Shia, der sich nie ganz aus ihren Gedanken verbannen ließ.
»Hier ist Aerillia«, sagte das Windauge endlich. Zu ihrem Erstaunen sah Aurian etwas, das wie eine Ansammlung leuchtender Funken weit unter ihr lag, und dann erkannte sie voller Verblüffung, daß es sich dabei um die unzähligen Lebensenergien der Geflügelten handelte, die oben auf dem gewaltigen Gipfel lebten.
Als das Windauge weiter hinunterschwebte, strengte Aurian sich an, um die Stadt auf dem Gipfel besser sehen zu können. Jetzt war die unheimliche, prismatische Wirkung von Chiamhs gesteigerter Sicht ein entschiedener Nachteil. »Gibt es denn keine Möglichkeit, wie ich meine normale Sehweise zurückbekommen kann?« fragte sie ihn.
»Aber gewiß doch.« In Chiamhs Gedankenstimme schwang Bedauern darüber mit, daß ihre Reise nun zu Ende ging. »Du bist jetzt hier – zumindest dein inneres Selbst ist hier. Laß einfach los, und du wirst wieder normal sehen. Ich werde ganz in deiner Nähe bleiben, um dich zurückzubringen, wenn du gehen willst.«
Aurian dankte dem Windauge, zog den Lichttentakel, mit dem sie sich an ihm festgehalten hatte, zurück und trennte damit ihre Verbindung zu Chiamhs innerer Gestalt. Als sie nach unten sah, keuchte sie. Auf dem höchsten Gipfel des Berges lagen die Trümmer eines großen, schwarzen Gebäudes, und überall um die Ruine herum kreisten in Panik geratene Himmelsleute. Es sah ganz danach aus, als hätte Anvar den Stab zurückbekommen. Aber warum in aller Welt antwortete er ihr nicht?
Während ihre innere Gestalt sich dem Boden näherte, versuchte Aurian statt dessen, nach Shia zu rufen, und bekam endlich eine Antwort. »Wo, um alles in der Welt, bist du?« wollte die Magusch wissen. In ihrer Besorgnis klang sie ausgesprochen schroff. »Was ist passiert? Wo ist Anvar?«
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