»Ich verstecke mich«, erwiderte Shia grimmig, »zusammen mit Khanu, einem Kameraden meiner eigenen Rasse, der mitgekommen ist, um mir zu helfen. Wir sind in den Korridoren unter dem Tempel. Es ist niemand hier, der diesen geflügelten Ungeheuern erklären könnte, daß wir gekommen sind, um sie zu befreien …«
Kalte Furcht durchzuckte Aurian, als sie das Zögern in der Stimme der großen Katze hörte. »Warum kann Anvar es ihnen nicht erklären? Wo ist er?« Ihre Gedankenstimme war kaum mehr als ein Flüstern, das schließlich zu einem verängstigten Aufschrei anschwoll. »Wo ist Anvar? Er kann nicht tot sein. Das hätte ich gespürt!«
»Du hast recht.« Shias nüchterne Stimme trug sehr dazu bei, daß die zu Tode erschrockene Magusch sich wieder ein wenig beruhigte. »Ich hatte noch, während er Schwarzkralle verfolgte und den Tempel verließ, Kontakt zu ihm. Der Priester ist zu einem Turm geflohen, wo Anvar ihn getötet hat. Dann gab es plötzlich ein Erdbeben – kein natürliches Phänomen, da bin ich mir sicher …« Shias Stimme verriet ihre Verwirrung. »Als der Turm zusammenbrach, habe ich den Kontakt mit Anvars Gedanken verloren, aber es fühlte sich nicht so an wie der Tod. Es war einfach so wie damals in Dhiammara, als du dich in dieser magischen Falle verfangen hast und in den Berg hineingerissen wurdest. Es war, als sei er einfach verschwunden.«
»Bei den Göttern!« Aurian war wie betäubt. Was war aus Anvar geworden? War er in eine Falle geraten, die Miathan gestellt hatte, um ihnen den Stab zu stehlen? Aber der Erzmagusch konnte im Augenblick doch nichts tun, nachdem er durch den Tod des Prinzen so abrupt aus Harihns Körper vertrieben worden war. »Hör mir zu, Shia«, sagte sie. »Ich muß eine Möglichkeit finden, nach Aerillia zu kommen. Ich bin im Augenblick nicht in meinem Körper, aber …«
»Dann ist das Kind also da?« erkundigte Shia sich ängstlich.
»Ja, und wir sind jetzt alle frei. Harihn ist tot, aber das erzähle ich dir alles später. Ich werde eine Möglichkeit finden, dich so schnell ich nur kann zu erreichen.«
»Das hoffe ich sehr. Wir sitzen hier unten in der Falle, und es kann nicht mehr lange dauern, bis man uns entdeckt. Aurian, bevor du gehst …« Hastig erzählte Shia der Magusch, was Rabe widerfahren war. Es war eine schlimme Neuigkeit, aber die Magusch hatte zu viele andere Sorgen, um Mitleid für das Mädchen zu empfinden, das sie betrogen hatte. Trotzdem konnte ihr die Information durchaus nützlich sein. In Aurians Gedanken formten sich die ersten Grundlagen einer Idee.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie eilig zu Shia. »Paß auf dich auf, meine Freundin, bis ich zurückkehre.« Mit diesen Worten suchte die Magusch nach Chiamh, um so schnell wie möglich wieder in ihren Körper zurückzukehren.
Das Wiedersehen, das im Turm stattfand, war stürmisch. Bohan stürzte auf Aurian zu, und Tränen strömten ihm über das Gesicht, während die Magusch versuchte, ihr Entsetzen über seinen furchtbaren Zustand und die Wunden, die seine gewaltigen Glieder entstellten, zu verbergen. Ihr Haß auf Harihn bekam neue Nahrung, und in dieser Stimmung fiel es ihr nicht weiter schwer, auch ohne Mitleid an Rabe zu denken.
Sie ließ Parric und Schiannath den geflügelten Gefangenen vom Dach herunterbringen, und während eine überaus widerwillige Nereni ihm Suppe und Liafa gab, damit er wieder zu Kräften kam, erzählte ihm die Magusch ohne Umschweife von Schwarzkralles Tod. Obwohl er bei dieser Nachricht erblaßte, glaubte Aurian, ein kurzes Auffunkeln von Erleichterung in seinen Augen zu entdecken, und hoffte, daß es dadurch leichter werden würde, sich seiner Mitarbeit zu versichern. Tatsächlich hatte sie schon seine Dankbarkeit gewonnen, indem sie die Wunden, die Schiannath ihm beigebracht hatte, geheilt hatte, und als sie ihm anbot, ihn frei nach Aerillia zurückkehren zu lassen, wenn er Rabe eine Nachricht überbrachte, war er nur allzugern bereit, ihre Bitte zu erfüllen.
Als sie in der Tür stand und dem Himmelsmann nachsah, wie er durch die mit Schnee beladenen Wolken schwebte, spürte die Magusch, wie jemand neben sie trat. Yazour stand hinter ihr, und sein Gesicht verriet deutlich, daß er sich Sorgen machte. »Aurian, ist es klug, daß du Rabe noch einmal dein Vertrauen schenken willst?« fragte er sie.
Aurian zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte sie. »Ich muß persönlich nach Aerillia, wenn ich herausfinden will, was mit Anvar geschehen ist. Außerdem, welche Wahl hat sie denn schon? Nach dem, was Anvar Shia über die Zerstörung von Rabes Schwingen erzählt hat, sind meine heilenden Kräfte ihre einzige Hoffnung, jemals wieder fliegen zu können. Und wenn sie meine Hilfe will, wird sie verdammt gut beraten sein, meine Bitte zu erfüllen und mir ihre geflügelten Krieger zu schicken, die uns nach Aerillia bringen.«
»Und wen willst du mitnehmen?«
Aurian lächelte dem Krieger zu. »Das hört sich ja genauso an wie eine von Anvars Fragen. Es ist eigentlich gar keine Frage.«
Yazour nickte. »Ich werde mit dir gehen, es sei denn, du tust etwas sehr Drastisches, um mich davon abzuhalten.«
»Yazour, ich muß gar nichts Drastisches tun. Deine Wunden wären schon genug.« Als sie den ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht sah, hörte Aurian sofort auf, ihn zu necken. »Jetzt, da ich meine Kräfte zurückhabe, kann ich dich jedoch im Nu wieder heilen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich möchte, daß du mit mir kommst, Yazour. Abgesehen von Anvar gibt es niemanden, den ich lieber an meiner Seite hätte. Was die anderen betrifft«, sie seufzte. »Nun, ich werde auf jeden Fall Chiamh mitnehmen, aber bei den anderen weiß ich es wirklich nicht. Nereni und Eliizar kommen nicht in Frage, soviel steht fest. Nach dem, was sie durchgemacht haben, kann ich sie unmöglich trennen, und ich brauche Nereni hier, damit sie sich um Wolf kümmert …«
Die Magusch hörte, wie Yazour scharf die Luft einsog. »Da könntest du vielleicht Schwierigkeiten bekommen«, sagte er.
»Wie meinst du das?« Aurian war froh über seine Warnung. Seit ihrer Rückkehr war sie über die Schweigsamkeit von Eliizar und seiner Frau sehr verwundert und nicht wenig verletzt gewesen. Obwohl seine Freude, sie wiederzusehen, offensichtlich echt gewesen war, hatte der frühere Schwertmeister kaum etwas gesagt und schien vor ihrer Berührung sogar zurückzuschrecken, während Nereni es geschafft hatte, der Magusch geflissentlich aus dem Weg zu gehen, indem sie so tat, als sei sie ganz mit den Vorräten beschäftigt, die die Soldaten ihnen zurückgelassen hatten.
Mit leichtem Druck auf ihren Arm zog Yazour Aurian zur Seite, so daß sie in das vom Feuer erleuchtete Turmzimmer sehen konnte. »Hab Geduld mit ihnen, Herrin. Der Wolfling macht ihnen Angst.« Er zeigte auf das schlafende Junge, das in eine Decke gehüllt war und nun in den Armen des strahlenden Eunuchen lag, der von dem winzigen Wesen hellauf entzückt war. Der junge Krieger runzelte leicht die Stirn. »Ich muß allerdings zugeben, Aurian, daß ich, als du mir davon erzählt hast …« Er brach mitten im Wort ab, und die Magusch spürte, wie ein Schaudern durch seinen geschmeidigen Körper lief.
»Es wird alles in Ordnung kommen, Yazour«, beruhigte Aurian ihn. »Sobald ich den Stab von Anvar zurückbekommen habe, sollte es mir möglich sein, Miathans Fluch wieder aufzuheben.«
»Das hoffe ich sehr.« Yazour warf einen traurigen Blick auf das Wolfsjunge und legte einen Arm um die Schultern der Magusch. »Arme Aurian! Nach all deinem langen Warten diesem Wesen hier gegegenüberzustehen, statt dem Kind, nach dem du dich so gesehnt hast.«
Im Angesicht seines Mitleids spürte Aurian, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte. »Es ist nichts verkehrt mit Wolf!« rief sie wild. Yazour erschrak über ihre Heftigkeit, und sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Es tut mir leid«, seufzte sie. »Wie kann ich auch erwarten, daß ihr das versteht? Und was noch schlimmer ist, wie kann ich Eliizar und Nereni beruhigen, da die beiden doch solche Angst vor Magie haben?«
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