»Kein Held«, sagte er zu der Cailleach. »Das habe ich nie gewollt, nichts dergleichen. Das einzige, was ich wollte, waren meine Kräfte und Aurian. Ganz besonders Aurian. Aber das ist immer noch besser, als die Harfe für zerstörerische Zwecke zu mißbrauchen, oder? Und es ist besser, als etwas so Wunderbares hier verrotten zu lassen, ungeliebt und unbenutzt, unerreichbar von der Welt, in der es geschaffen wurde. Selbst jetzt kann ich die Harfe hören; sie ruft nach mir wie ein Kind, das sich verirrt hat; sie bittet mich, sie nach Hause zu bringen.« Als er diese letzten Worte aussprach, begriff er, daß sie der Wahrheit entsprachen. Der betörende Sternengesang war nicht mit der Brücke gestorben, sondern murmelte leise weiter, irgendwo ganz weit hinten in seinen Gedanken. Aber jetzt trug die Musik Worte zu ihm herüber: halb verstanden zunächst, aber doch mit jedem Augenblick klarer.
Die Cailleach hob eine Augenbraue. »Die Harfe singt dir zu?«
Aber Anvar hörte das Zittern des Zweifels hinter ihrem Hohn, sah, wie ihre Augen kaum merklich flackerten, bevor sie ihn erneut mit Blicken zu durchbohren schien. Doch es war tatsächlich wahr, die Harfe sang ihm zu, sang mit der kristallenen Sternenmusik der Brücke, sang zu ihm in den Tiefen seines Bewußtseins. Und die Harfe sagte ihm auch, wie er der Cailleach antworten mußte. »Natürlich singt sie mir zu. Das weißt du doch. Wer hat den Wellen des Sees verboten, mir Schaden zuzufügen? Wer hat die Brücke der Sterne gebaut, über die ich hierhergekommen bin? Zuerst dachte ich, das alles sei dein Werk gewesen, aber jetzt weiß ich es besser.« Anvar hob den Kopf und sah der Cailleach in die Augen. Ihre Blicke schlugen aufeinander wie zwei stählerne Klingen. Die Herrin der Nebel war die erste, die den Blick senkte. Als sie den Magusch wieder ansah, lächelte sie.
Keine Spur mehr von dem alten Weib. Keine Spur mehr vom Adler. Ihr Gesicht war makellos jung und verführerisch. Wunderschön. Unwiderstehlich. Anvars Herz schlug schneller. » Narr «, sang die Harfe weit hinten in seinem Verstand. » Tor ! Hüte dich vor Betrug …« So, wie die Macht des Erdenstabs einen eindeutig männlichen Aspekt hatte, so war die Melodie der Harfe unbestreitbar weiblich.
»Wo bist du?« rief der Magusch ihr in Gedanken zu. »Wie kann ich dich finden?«
» Im Innern. Im Innern … « Anvar blickte grinsend zu der Cailleach auf. »Warum bittest du mich nicht hinein?« Da sah er plötzlich in ihren Augen so etwas wie Triumph aufblitzen. Sie winkte ihn die gewundene Treppe hinauf, und als er in das goldene Glühen jenseits des Portals trat, hörte er, wie sich die Tür hinter ihm schloß wie die stählernen Klauen einer Falle.
Das goldene Licht schien im Innern noch viel heller. Es verwirrte seine Augen, brannte sich in sein Gehirn. Es war wie ein Sturz mitten in das Herz der Sonne hinein. Anvar taumelte nach vorn, blind, schwindlig, orientierungslos. Er hörte das gackernde Triumphgelächter eines alten Weibs – oder war es der harte Schrei eines Raubvogels? Arme schlangen sich um seinen Hals, zogen ihn zu Boden, klauenscharfe Nägel durchbohrten seine Haut. Ein sich windender Körper klammerte sich an ihn und preßte sich an sein Fleisch. Feuchte Lippen legten sich auf seinen Mund, saugten seinen Atem ein, zogen die Lebenskraft aus seinem Körper heraus. Anvar kämpfte, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und ertrank in einer gewaltigen Woge, ertrank in der Lust dieser Kreatur …
» Der Stab, du Narr ! Benutze den Stab, bevor sie ihn dir wegnimmt’ .« Der Gesang der Harfe schnitt schrill durch sein dahintreibendes Bewußtsein. So groß war seine Macht, daß Anvar instinktiv gehorchte. Er hob seine rechte Hand und ließ den Stab der Erde mit einem gewaltigen Krachen auf das Haupt des monströsen Sukkubus niedersausen.
Die Vampirgeliebte verschwand. Die Luft zerriß unter einem gewaltigen Schrei, und die Welt versank in Dunkelheit.
Es war tiefe Nacht, als Aurian und ihre geflügelte Eskorte Aerillia erreichten. Die Himmelsleute, die sie trugen, waren eindeutig unglücklich über das Risiko eines Flugs im Dunkeln, und um das Problem noch zu vergrößern, lagen die Gipfel unter tief hängenden Wolkenbänken, die die Sicht noch weiter einschränkten.
Die Magusch konnte die gemurmelten Klagen ihrer Träger hören, während sie zwischen ihnen hing und gefährlich hin- und hergeschleudert wurde. Und diese Leute dachten, sie hätten Probleme. Aurian schnaubte angewidert. Von allen schwachsinnigen, lächerlichen Arten, wie man von einem Ort zum anderen kommen konnte … Die Maschen des groben Seils schnitten in ihren Körper, und die feuchte Kälte ging ihr bis auf die Knochen – und das trotz der vielen Decken, in die sie sich eingewickelt hatte. Für jemanden, der unter Höhenangst litt, war dies eindeutig nicht die richtige Art zu reisen. Aurian war von ganzem Herzen froh über die Dunkelheit und die Wolken, die ihr die Sicht raubten, so daß sie zumindest nicht sehen konnte, wie tief sie fallen würde, falls diese Idioten sie aus Versehen losließen.
»Aurian? Bist du das, meine Freundin?« Sie mußten sich also endlich Aerillia nähern. Als die Magusch Shias Gedankenruf hörte, vergaß sie vor lauter Sorge um ihre Gefährtin sogar ihre Angst. Shia klang unglücklich und ungewöhnlich gedämpft. »Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte sie die Katze.
»Khanu und ich frieren, wir haben Hunger und sind hier eingezwängt. Wir wagen es nicht einmal, uns einen Weg hinaus ins Freie zu graben, aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen. Hier unten sind überall Himmelsleute, die nach uns suchen … Nach uns und nach Anvar.« Shias verzweifelter Tonfall sagte der Magusch besser als alle Worte, daß Anvar noch nicht wieder aufgetaucht war. Schaudernd versuchte sie, die kalte Hand der Furcht abzuschütteln, die sich um ihr Herz krampfte. Ich werde ihn finden, dachte Aurian halsstarrig. Ich weiß, daß er nicht tot ist – das hätte ich gespürt. Entschlossen verbannte sie diese Sorge für den Augenblick aus ihren Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Shia. »Aber ich habe Rabe eine Nachricht geschickt und sie beauftragt, den Geflügelten zu sagen, daß sie euch nichts tun dürfen.«
»Pah!« fauchte Shia. »Sie hat uns schon einmal hintergangen. Ich würde Rabe genausowenig vertrauen wie dem Rest dieser mordlüsternen Himmelsteufel!«
Es entstand eine lange Pause, so lang, daß die Magusch sich schon zu sorgen begann; dann hörte sie eine unbekannte Stimme: Eine andere Katze, aber eindeutig männlich – meldete sich zu Wort: »Sie haben Hreeza getötet.«
»Wir haben sie im Stich gelassen«, fügte Shia verbittert hinzu. »Wir waren nicht rechtzeitig bei ihr.« In Aurians Gedanken erschien eine Vision von einer großen Katze, die in einem zerstörten Gebäude von Feinden in die Enge getrieben wurde. Ihre schwarze Schnauze war mit einem grauen Schimmer überhaucht, und ihre Bewegungen waren vom Alter schon steif, aber in ihren Augen loderten immer noch Wut und Trotz. Eine Schar Geflügelter, die mit Steinen und Messern bewaffnet waren, umringte sie. »Sie hat lange gebraucht, um zu sterben.« Shias Gedankenstimme war beinahe unhörbar. Das Bild zerbrach und verschwand, als Shia die Kontrolle über die Vision verlor, und Aurians Herz wurde von dem Kummer der großen Katze überwältigt. Eine Woge des Zorns erhob sich in ihr gegen jene, die diese grauenvolle Tat begangen hatten.
»Könnt ihr nicht etwas schneller fliegen?« rief die Magusch ihren geflügelten Trägern zu. Sie wünschte sich verzweifelt, sofort nach Aerillia zu kommen, um ihre Freundin zu trösten. »Ich komme«, sagte sie zu Shia. »Wir sind schon fast da. Es dauert nur noch einen kleinen Augenblick.«
Schließlich sah Aurian die vielen wie von einem Glorienschein umgebenen Lichter, die in der sonst undurchdringlichen Dunkelheit auffunkelten. Endlich waren sie in Aerillia! Eine Woge der Erleichterung schlug über ihr zusammen, aber die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Eine große, dunkle Gestalt wirbelte durch den Nebel auf sie zu. Eine höhnisch grinsende Dämonenfratze tauchte vor ihr auf, und harter Stein schlug ihr gegen die Hüfte, als das Netz gegen einen Strebepfeiler krachte. Aurian hörte ihre Träger fluchen, als sie den Turm überflogen, mit dem sie kollidiert waren. Das Herz der Magusch schlug ihr bis zum Hals, als das Geräusch der Flügelschläge über ihr stockte und das Netz mit einem Ruck nach unten sackte. Dann hatten die Himmelsleute den Flug wieder unter Kontrolle, obwohl das Netz mit seinem zu Tode erschrockenen Passagier von der Wucht des Aufpralls immer noch wüst hin- und herschaukelte, während die Magusch ihrerseits heftige Flüche ausstieß.
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