Die Kaiserinwitwe hatte die bemerkenswerte Gabe, vorausschauend zu handeln. Ihr visionärer Blick reichte in die Zukunft, in der eine Zusammenarbeit von Anfang an in späteren Jahren Schutz bot. Wie die meisten Visionäre konnte sie jedoch den Schatten nicht erkennen, der sich hinter ihr auftürmte.
Der zu drei Vierteln volle Mond ging schwer über den Straßen von Jierna’sid auf, der Hauptstadt von Sorbold, und beleuchtete spärlich den Sand, der die Ziergärten und gut gepflegten Wege bedeckte und eine ständige Mahnung an die endlose Wüste darstellte, welche die Stadt an zwei Seiten umgab. Der Wind schien den Mond auszulachen; er blies neckisch Staubwolken vor die blasse Himmelslaterne und heulte launisch über der schlafenden Stadt.
Versuch mich zu zähmen, spottete er. Du traust dich ja doch nicht.
Zur Antwort tauchte der Mond das wichtigste Artefakt der Stadt in ein besonders gleißendes Licht. Hoch erhoben über dem Palast von Jierna Tal, dem Ort des Gewichtes, stand die heiligste Reliquie des Landes. Es war eine gigantische Waage; die hölzerne Säule und der Arm waren von Kunsthandwerkern des alten cymrischen Reiches vor tausend oder mehr Jahren glatt geschmirgelt worden. Die Metallschalen waren sogar noch älter. Sie waren aus glänzendem Gold und über das Meer mit Schiffen gekommen, welche vor der Vernichtung jenes Landes geflohen waren, in dem man die Waagschalen geschmiedet hatte. Nun waren sie vom unbarmherzigen Sand und Wind blank gescheuert.
Zum letzten Mal waren diese gewaltigen Schalen vor drei Jahren bei einer Entscheidung von größter Wichtigkeit verwendet worden, als der Patriarch von Sepulvarta gestorben war. Er hatte in seinen letzten Augenblicken bestimmt, dass die Waage seinen Nachfolger ermitteln solle, anstatt ihn selbst zu benennen. Die Seligsprecher, die an Macht und Einfluss unmittelbar nach dem Patriarchen kamen, hatten sich zur Wiegezeremonie in Jierna Tal versammelt. Es war ein hoch geachteter Ritus, bei dem die alten Waagschalen über die Würdigkeit eines Kandidaten urteilten. Früher hatte die Waage Entscheidungen über die Besetzung vieler verschiedener Ämter und über Schuld oder Unschuld angeklagter Verbrecher getroffen und auch verraten, ob ein Vertrag in seinen Bedingungen ausgewogen und gerecht war. Doch in jüngerer Zeit wurde ihr Ratspruch nur in Angelegenheiten des Staates oder solchen von großer Bedeutung eingeholt. Die Auswahl und Einsetzung eines neuen Patriarchen war ein würdiger Grund für die Befragung der Waage gewesen.
Der Ring der Weisheit war in einer feierlichen Zeremonie auf die Schale gelegt worden, die mit Leuk verbunden war, dem Westwind und Wind der Gerechtigkeit, damit er als Gewicht diene.
Wann immer ein Anwärter auf die östliche Waagschale getreten war, hatte diese wie verrückt gezittert, war dann hochgeschnellt und hatte einen nach dem anderen als unwürdig bezeichnet. Unter dem Freudengebrüll der gewaltigen Menge, die sich bei dem Auswahlverfahren versammelt hatte, waren die Kandidaten recht unsanft an der Basis des Gerüsts auf dem Hinterteil gelandet. Ian Steward, der jüngste der vier Seligpreiser, hatte sich tapfer bereit erklärt, als Erster von ihnen die Probe zu wagen. Er war mit einem lauten Klatschen in einer solch unschmeichelhaften Weise auf dem Boden gelandet, dass Colin Abernathy, der älteste Seligpreiser, sich entschieden hatte, auf das Verfahren zu verzichten und die Hoffnung auf das Patriarchat ganz aufzugeben.
Als schließlich auch die übrigen Seligpreiser von der Waage als des Rings und des Patriarchats unwürdig erachtet worden waren, war ein weiterer Mann vorgetreten, trotz seines fortgeschrittenen Alters groß und breitschultrig und mit gekräuselten grauen Strähnen in dem blonden Bart und Haar. Er war auf die Waagschale getreten, als hätte er dies schon öfter getan. Es hatte ausgesehen, als lausche er einer Stimme in den Wolken, sobald der große Arm und die Kette der Waage ihn hoch über die Köpfe der verstummten Menge gehoben und sich die Schalen dann ausbalanciert hatten. Als sich die erstaunte Menge von dem Schock erholt und ihre Zustimmung herausgebrüllt hatte, da hatte der Mann nur ein einziges Wort gesagt: seinen Namen.
Constantin.
Der Lärm aus der Menge war für einen Augenblick abgeebbt. Dieser Name war bekannt in Sorbold; der Mann teilte ihn mit einem berühmten Gladiator in dem westlich gelegenen Stadtstaat Jakar, einem kalten und blutrünstigen Arena-Mörder, der vor einigen Monaten aus dem Gladiatorenkomplex verschwunden war. Der Umstand, dass dieser ältere heilige Mann, der bald gesalbt und mit der Macht des größten Heilers im Land versehen werden würde, seinen Namen mit dem Gladiator teilte, hatte auf dem Marktplatz für wogendes Gelächter gesorgt, worauf sogar die Glocken von Jierna Tal erklungen waren.
Später an diesem Tag, lange nachdem die Entscheidung der Waage offiziell in den heiligen Büchern von Sepulvarta verzeichnet worden war und viele Stunden nachdem sich die Menge zerstreut hatte, konnte man den neuen Patriarchen noch immer am Fuß der Waage stehen und das heilige Instrument mit einem Ausdruck ehrerbietiger Verwunderung anstarren sehen, die in die Linien seines Gesichtes eingemeißelt zu sein schien.
Im Licht des zunehmenden Mondes stand nun ein anderer Mann bei der Waage und trug einen ähnlichen Ausdruck der Scheu auf dem Gesicht, die seine groben Züge zu einem Bild der Ehrfurcht machte. Er hatte die dunklen Hände an die Seiten gelegt und betastete in dem silbernen Licht etwas Glattes, während er beobachtete, wie das großartige Instrument der Gerechtigkeit in dem Ungewissen Mondschein glitzerte.
Die letzte Wache der Nacht wechselte, während er in den Schatten des Palastes von Jierna Tal stand. Die Soldaten der zweiten Steppenkolonne, die unter ihren gegerbten Lederhelmen, der Stahlrüstung und den Leinenkleidern schwitzten, gingen wenige Schritte von ihm entfernt vorüber, als wäre er gar nicht da. Dann war es still auf der Straße; die Lichter im Palast wurden schwächer und machten schließlich der Schwärze Platz.
Er seufzte, sog die heiße, trockene Sommerluft voller dunkler Ahnungen tief ein und füllte sich die Lunge.
Dann stieg er langsam die Stufen zu den titanischen Waagschalen hoch.
Das schwankende Mondlicht spiegelte sich in den goldenen Schalen wider, die groß genug waren, um jeweils einen Karren mit zwei Ochsen zu tragen. Er betrachtete nachdenklich die Mitte der Pfanne und die feinen Linien, die in das Metall getrieben waren. Die Oberfläche war von Zeit und Wetter gezeichnet und leuchtete aus sich selbst heraus. Dies war die Geburtsstätte vieler neuer Anfänge gewesen. Er öffnete die linke Hand.
In ihr befand sich ein Gewicht, das wie ein Thron geformt war.
Das Schnitzwerk an dem Gewicht war bewunderungswürdig. Der kleine Thron war Linie für Linie, Winkel für Winkel, Verzierung für Verzierung dem Thron von Sorbold nachgebildet – bis hin zum Bild des Schwertes und der Sonne, welche den alten Sitz der Macht schmückten, den nun die Kaiserinwitwe innehatte.
Doch noch bemerkenswerter war das Gestein, aus dem das Gewicht bestand. Es fühlte sich selbst in der Hitze dieser Wüstennacht kühl an und war von Grün und Purpur, von Braun und Karmesinrot durchzogen.
Es summte vor Leben.
Vorsichtig setzte der Mann das Throngewicht in die westliche Waagschale. Dann ging er mit abgemessenen Schritten um das massige Gerät herum und stellte sich vor die östliche Waagschale. Er öffnete die rechte Hand.
Das flüchtige Mondlicht war nun verschwunden. Zunächst hüllte Finsternis den Gegenstand in seiner Hand ein. Nach einem Augenblick leuchtete er auf dem unregelmäßigen Oval in violetter Farbe, als treibe ihn Neugier um, doch als sein Licht die Oberfläche berührte, schien sie wie vom Schein tausend winziger Kerzen aufzuleuchten. In die vom Alter geglättete Oberfläche war eine Rune aus der Sprache einer Insel eingeritzt, die schon lange unter den Wogen des Meeres lag.
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