»Aber ich bin viel schlechter gewesen, als du weißt. Ich glaubte nämlich doch, daß er es war – gestern, als er uns davor warnte, in das Kieferngehölz hinabzusteigen. Und tatsächlich glaubte ich auch, daß er es heute nacht war, als du uns aufwecktest. Ich meine, ganz tief drinnen glaubte ich es. Oder ich hätte es doch glauben können, wenn ich es nur gewollt hätte. Aber ich wollte einfach nur fort aus den Wäldern, und – oh, ich weiß nicht mehr. Was soll ich ihm nur sagen?« »Vielleicht brauchst du gar nicht viel zu sagen«, meinte Lucy. Sie erreichten bald die Bäume und konnten durch sie hindurch den großen Hügel sehen, Aslans Mal, das seit ihren Zeiten über dem Tisch errichtet worden war.
»Unsere Seite ist nicht sehr auf ihrer Hut«, murmelte Trumpkin. »Man hätte uns schon längst behelligen müssen.« »Schsch«, machten die vier anderen, denn Aslan war stehengeblieben und hatte sich umgewandt. Er blickte sie jetzt alle majestätisch an. Dabei fühlten sie sich so froh, wie man sich fühlen kann, wenn man sich gleichzeitig fürchtet, und zugleich fürchteten sie sich so, wie man sich fürchtet, wenn man gleichzeitig froh ist. Die Jungen schritten auf ihn zu. Lucy ließ sie durch, und Suse und der Zwerg traten zurück. »Oh, Aslan«, begann König Peter, ließ sich auf ein Knie nieder und hob die schwere Tatze des Löwen an sein Gesicht. »Ich bin so glücklich und bin doch so betrübt. Ich habe die anderen, seit wir aufbrachen, immer verkehrt geführt, und besonders gestern morgen.«
»Mein lieber Sohn«, sprach Aslan.
Darauf wandte er sich zu Edmund und begrüßte ihn. »Gut gemacht«, waren seine Worte.
Dann sprach die tiefe Stimme nach einer schrecklichen Pause: »Suse!« Suse gab keine Antwort, und den anderen schien es so, als ob sie weine. »Du hast dich von der Angst überwältigen lassen, Kind«, sagte Aslan. »Komm, laß mich dich anhauchen. Bist du nun wieder tapfer?« »Ein wenig, Aslan«, erwiderte Suse.
»Und jetzt«, sagte Aslan mit einer viel lauteren Stimme, die schon eine Spur von Gebrüll in sich trug, während sein Schwanz seine Flanken peitschte, »und jetzt, wo steckt denn der kleine Zwerg, dieser berühmte Fechter und Bogenschütze, der nicht an Löwen glaubt? Komm her, Sohn der Erde, komm her!« Und das letzte Wort war keine Andeutung an ein Brüllen mehr, es war ein echtes Löwengebrüll. »Schauer und Schiffbruch!« keuchte Trumpkin mit hauchdünner Stimme. Die Kinder, die Aslan gut genug kannten, um zu wissen, daß er den Zwerg gern leiden mochte, waren nicht beunruhigt. Anders lag es bei Trumpkin, der noch nie einen Löwen gesehen hatte, geschweige denn diesen Löwen. Er tat das Vernünftigste, was er tun konnte. Statt auszureißen, wankte er auf Aslan zu. Aslan packte zu. Habt ihr jemals gesehen, wie ein ganz junges Kätzchen von der Katzenmutter im Maul getragen wird? So war es hier. Der Zwerg, zu einer kleinen, elenden Kugel zusammengeschrumpft, hing dem Löwen aus dem Maul. Der Löwe schüttelte ihn einmal kurz, und da schepperte seine ganze Rüstung wie eines Kesselflickers Geschirr, und dann – hast du nicht gesehen – flog der Zwerg in die Luft. Er war so sicher wie im eigenen Bett, nur wußte er es nicht. Als er wieder herunterkam, fingen ihn die großen, samtweichen Tatzen sanft wie die Arme einer Mutter auf und setzten ihn – richtig mit dem Kopf nach oben – auf den Boden.
»Sohn der Erde, wollen wir Freunde werden?« fragte Aslan. »Ja-a-aha«, keuchte der Zwerg, der noch nach Luft rang. »Also«, sprach Aslan, »der Mond geht unter. Schaut hinter euch; die Morgendämmerung beginnt. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ihr drei, die beiden Adamssöhne und der Sohn der Erde, eilt in den Berg und tut, was dort für euch zu tun ist.« Der Zwerg, noch nicht wieder zu Atem gekommen, konnte nichts sagen, und keiner der Jungen wagte zu fragen, ob Aslan ihnen folgen werde. Alle drei zogen ihre Schwerter und grüßten, wandten sich dann um und verschwanden klirrend in der Dunkelheit. Ihre Gesichter zeigten, wie Lucy bemerkte, keine Erschöpfung mehr. Die beiden Könige, Peter der Prächtige wie auch Edmund, sahen jetzt fast wie Männer, kaum noch wie Knaben aus. Die Mädchen standen neben Aslan und blickten den Jungen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Das Licht veränderte sich. Weit unten im Osten schimmerte wie ein kleiner Mond Aravir, der Morgenstern von Narnia. Aslan, der größer zu werden schien, hob das Haupt, schüttelte seine Mähne und stieß ein Brüllen aus. Der Ton begann zuerst wie ein tiefer Orgellaut, dunkel und vibrierend, schwoll an, wurde lauter und immer lauter, bis Erde und Himmel davon erfüllt waren. Er schwang sich von dem Hügel auf und flutete über ganz Narnia. Drunten in Miraz’ Lager erwachten die Männer, blickten einander blaß werdend an und griffen zu den Waffen. Weiter unten im Großen Fluß – der jetzt seine kälteste Stunde hatte – hoben sich die Köpfe und Schultern der Nymphen und das große, schilfbärtige Haupt des Flußgottes aus dem Wasser. Jenseits schossen auf allen Feldern und in allen Wäldern die beweglichen Ohren der Kaninchen aus den Höhlen; die schläfrigen Köpfe der Vögel krochen unter den Flügeln hervor, Eulen schrien, Füchse bellten, Igel grunzten, Bäume bewegten sich. In den Städten und Dörfern drückten mit schreckerfüllten Augen die Mütter ihre Kinder eng an die Brust, Hunde winselten, und Männer sprangen auf und suchten nach Licht. Fern an der Nördlichen Grenze schauten die Bergriesen suchend aus den dunklen Toren ihrer Schlösser. Lucy und Suse sahen indessen ein finsteres Etwas von fast allen Seiten über die Hügel auf sie zukommen. Es sah zuerst wie ein dunkler, am Boden kriechender Nebel aus, dann aber wie sturmbewegte Wellen eines schwarzen Meeres. Höher und höher wuchs es, während es näher kam, und endlich erkannten sie es als das, was es war – Bäume in Bewegung. Alle Bäume der Welt schienen auf Aslan zuzueilen. Aber je näher sie kamen, um so weniger sahen sie wie Bäume aus. Als die ganze Menge Lucy umgab, sich verbeugte, knickste und mit langen, dünnen Armen Aslan zuwinkte, erkannte sie es als eine Masse menschlicher Formen. Bleiche Birkenmädchen schwenkten ihre Köpfe, Weidenfrauen schüttelten sich das Haar aus den sinnenden Gesichtern und blickten auf Aslan. Die königlichen Buchen standen gemessen da und bewunderten ihn; haarige Eichenmänner, hagere und trübsinnige Ulmen, Stechpalmen mit Zottelköpfen – sie selbst waren dunkel, aber ihre Frauen wirkten durch die Früchte hell – und fröhliche Ebereschen, sie alle verneigten sich, erhoben sich wieder und riefen »Aslan, Aslan!« mit ihren verschiedenen, teils knarrenden oder säuselnden Stimmen.
Die Menge um Aslan wurde erdrückend und der Tanz – denn es hatte sich wieder ein Tanz entwickelt – gewaltig und schnell; fast benahm er Lucy den Atem. Sie bemerkte nicht, daß und woher gewisse andere Geschöpfe auftauchten, die sich mit Luftsprüngen unter die Bäume mischten. Eines war ein nur mit einem Rehfell bekleideter Jüngling, der einen Kranz von Weinblättern in den Locken trug. Sein Antlitz wäre für einen Knaben fast zu hübsch gewesen, hätte es nicht so sehr wild ausgesehen. Man empfand bei seinem Anblick das, was Edmund aussprach, als er ihn einige Tage später sah: »Das ist ein Bursche, der zu allem fähig ist – durchaus zu allem.« Umgeben war dieser Jüngling von einer Gruppe genauso wilder Mädchen.
Eben jetzt ging die Sonne auf, Lucy besann sich auf etwas und flüsterte es Suse zu: »Du, Suse, ich weiß, wer das ist.« »Wer denn?«
»Der Knabe mit dem wilden Antlitz ist Bacchus. Weißt du nicht mehr, wie uns Meister Tumnus vor langer Zeit davon erzählte?«
»Ja, natürlich. Aber weißt du, Lu...« »Was denn?«
»Ohne Aslan würde ich mich bei Bacchus und seinen wilden Mädchen nicht wohl fühlen.«
»Das geht mir ebenso«, antwortete Lucy.
Читать дальше