»Sie sind fast erwacht, aber nicht ganz«, sagte Lucy. Von sich selbst wußte sie, daß sie hellwach war, viel wacher, als man gewöhnlich ist. Furchtlos ging sie zwischen ihnen umher. Auch sie tanzte, während sie bald hierhin, bald dorthin hüpfte, um von den gewaltigen Mittänzern nicht angerannt zu werden. Aber sie war nicht ganz bei der Sache. Sie wollte hinter den Bäumen zu etwas anderem gelangen, denn von weiter her, von hinter den Bäumen, hatte jene liebe Stimme gerufen.
Allmählich gelangte sie hindurch. Dabei war sie sich selbst nicht klar darüber, ob sie ihre Arme gebraucht hatte, um die Zweige beiseite zu schieben, oder ob sie ihre Hände gereicht hatte, um in der langen Kette der großen Tänzer mitzumachen, die sich zu ihr niederbeugten. Die Bäume bildeten um eine freie Mitte einen Kreis, und Lucy trat aus dem wechselnden Durcheinander hübscher Lichter und Schatten in diesen Kreis hinein. Ihre Augen ruhten auf dem runden Grasplatz, der glatt wie ein Rasen war und um den die dunklen Bäume tanzten. Und dann – o Freude! Dort stand er , der riesige Löwe. Weiß schien er im Mondlicht, und große, schwarze Schatten warf er unter sich. Hätte er nicht den Schwanz bewegt, man hätte meinen können, es sei ein steinerner Löwe. Aber so dachte Lucy nicht. Sie dachte nicht einmal darüber nach, ob es ein freundlicher Löwe sei oder nicht. Sie rannte auf ihn zu. Ihr Herz – das fühlte sie – würde bersten, wenn sie nur einen Augenblick versäumte. Und alles, was sie dann wußte, war, daß sie ihn küßte, daß sie ihre Arme, soweit es nur möglich war, um seinen Nacken schlang und daß sie ihr Gesicht in der wundervollen, mächtigen Seidenweiche seiner Mähne verbarg. »Aslan, Aslan. Lieber Aslan«, schluchzte Lucy. »Endlich!« Das große Tier rollte sich auf eine Seite, so daß Lucy halb sitzend und halb liegend zwischen seine Vordertatzen fiel. Er beugte sich vor und berührte ganz leicht ihre Nase mit seiner Zunge. Sein warmer Atem hüllte sie ein. Sie schaute in das große, kluge Antlitz.
»Willkommen, Kind«, sagte er. »Aslan«, sagte Lucy, »du bist größer geworden.« »Das kommt dir nur so vor, weil du älter bist, mein Kleines«, antwortete er. »Nicht, weil du größer bist?«
»Das bin ich nicht. Aber du wirst mich mit jedem Jahr, das du älter wirst, größer finden.«
Eine Zeitlang war sie so glücklich, daß sie gar nicht sprechen mochte. Aber Aslan redete.
»Lucy«, sprach er, »wir dürfen hier nicht lange liegenbleiben. Du hast noch viel zu tun, und heute ist viel Zeit verloren worden.«
»Ja, war es nicht schändlich?« fragte Lucy. »Ich sah dich doch. Sie glaubten mir nicht. Sie sind alle so...« Tief aus Aslans Körper kam die leise Andeutung eines Knurrens. »Verzeih, bitte«, sagte Lucy, die etwas von seiner Stimmung verstand. »Ich wollte die anderen nicht schlechtmachen. Aber es war doch nicht meine Schuld, nicht wahr?« Der Löwe blickte ihr gerade in die Augen.
»Oh, Aslan«, beschwor ihn Lucy, »du denkst doch nicht etwa, es war mein Fehler? Wie konnte ich – ich konnte doch nicht die anderen verlassen und allein zu dir heraufkommen, nicht wahr? Schau mich nicht so an – na ja, vielleicht hätte ich es doch gekonnt. Ja, und ich wäre auch nicht allein gewesen, das weiß ich – nicht, solange ich bei dir gewesen wäre. Aber was hätte es genützt?« Aslan antwortete nichts.
»Du meinst«, fuhr Lucy kläglich fort, »alles wäre gut ausgegangen – irgendwie? Aber wie? Bitte, Aslan, soll ich es nicht erfahren?« »Etwas erfahren, was sich ereignet hätte , Kind?« sagte Aslan. »Nein, das erfährt niemals jemand.« »O weh«, stieß Lucy aus. »Aber jeder kann erkennen, was sich ereignen wird« , sagte Aslan. »Wenn du zu den anderen zurückgehst, sie aufweckst, ihnen berichtest, daß du mich wiedergesehen hast, und ihnen sagst, sie alle müßten sich sofort erheben und mir folgen – was wird dann geschehen? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« »Ist es das etwa, was ich jetzt tun soll?« »Ja, mein Kleines«, erwiderte Aslan. »Werden die anderen dich auch sehen?« fragte Lucy. »Keinesfalls sofort«, antwortete Aslan. »Vielleicht später, das mag sein.« »Aber sie werden mir nicht glauben«, meinte Lucy. »Das ist einerlei«, entgegnete Aslan. »Oje, oje«, klagte Lucy. »Und ich war so froh, dich wiederzusehen. Und ich glaubte, ich dürfte bei dir bleiben. Und ich dachte, du kommst brüllend an und schlägst alle Feinde in die Flucht – wie damals. Und jetzt wird alles so schrecklich.« »Es ist schwer für dich, Kleines«, sagte Aslan. »Aber nichts wiederholt sich. Es war für uns alle in Narnia bis jetzt schwer.« Lucy verbarg ihren Kopf in seiner Mähne, um sich vor seinem Blick zu verstecken. Aber in seiner Mähne muß Zauber gewesen sein. Sie fühlte, wie Löwenstärke in sie hineinströmte. Ganz plötzlich setzte sie sich auf. »Es tut mir leid, Aslan«, sagte sie. »Jetzt bin ich bereit.« »Jetzt bist du wie eine Löwin«, meinte Aslan. »Nun wird das ganze Narnia neu erstehen. Komm jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Er erhob sich und schritt stattlich und lautlos zurück zu dem Ring der tanzenden Bäume, durch den Lucy gekommen war. Lucy ging neben ihm und legte ihre ziemlich zitternde Hand auf seine Mähne. Die Bäume wichen auseinander, um sie durchzulassen, und nahmen für einen Augenblick ganz und gar ihre menschlichen Formen an. Lucy sah große und schöne Waldgötter und Waldgöttinnen vor sich, die sich alle vor dem Löwen niederbeugten. Gleich danach waren sie wieder Bäume, aber sie verbeugten sich weiter und schwenkten dabei Zweige und Äste so anmutig, daß ihre Verbeugung wie ein Tanz anzuschauen war. »So, Kind«, sagte Aslan, als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten. »Hier werde ich warten. Geh, weck die anderen und fordere sie auf, dir zu folgen. Wollen sie es nicht, so mußt wenigstens du allein mir folgen.« Es ist eine heikle Aufgabe, vier Menschen zu wecken, die sehr müde und älter sind als man selbst, nur um ihnen etwas mitzuteilen, was sie voraussichtlich nicht glauben, und sie zu etwas aufzufordern, was sie bestimmt nicht mögen. »Ich darf nicht darüber nachdenken. Ich muß es einfach tun«, sagte sich Lucy. Zuerst ging sie zu Peter und schüttelte ihn. »Peter«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wach auf. Schnell. Aslan ist da. Er sagt, wir müssen ihm sofort folgen.« »Natürlich, Lu. Was du willst«, sagte Peter unerwartet. Das war sehr ermutigend, da sich Peter aber sofort wieder umdrehte und weiterschlief, hatte es wenig Sinn.
Dann versuchte Lucy es bei Suse. Suse wachte richtig auf, aber nur, um mit ihrer aufreizenden Erwachsenenstimme zu sagen: »Du hast geträumt, Lucy. Leg dich wieder hin.« Dann packte sie Edmund. Ihn zu wecken war schwierig; doch als es endlich erreicht war, setzte er sich ganz wach auf. »Nanu«, sagte er in mürrischem Ton, »wovon redest du?« Sie wiederholte nochmals alles. Dies war der unangenehmste Teil ihres Auftrages, denn jedesmal, wenn sie es hersagte, klang es weniger überzeugend.
»Aslan!« rief Edmund aufspringend. »Hurra! Wo ist er?« Lucy wandte sich dorthin, wo sie den Löwen sehen konnte, der wartend seine geduldigen Augen auf sie richtete. »Dort«, sagte sie und wies hin. »Wo?« fragte Edmund wieder. »Dort! Dort. Siehst du ihn denn nicht? Vor den Bäumen?« Edmund starrte eine Weile scharf dorthin und sagte dann: »Nein, da ist nichts. Ich wurde zuerst vom Mondlicht geblendet und irrte mich. Das kann vorkommen. Zuerst dachte ich einen Augenblick lang auch, ich hätte etwas gesehen. Aber das war nur eine – wie nennt man das doch – optische Täuschung – oder?« »Ich sehe ihn die ganze Zeit«, erklärte Lucy. »Er blickt uns gerade an.«
»Warum kann ich ihn denn nicht sehen?« »Er sagte, du bist vielleicht dazu nicht imstande.« »Warum nicht?« »Das weiß ich nicht. Er sagte so.«
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