»Trumpkin, du bist ein Mordskerl!« rief Peter. »Los denn. Hinunter in die Schlucht.« »Seht! O seht doch!« rief Lucy. »Wo? Was?« riefen alle fragend durcheinander. »Der Löwe«, sagte Lucy, »Aslan selbst. Habt ihr nicht gesehen?« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich vollkommen, und ihre Augen glänzten. »Meinst du wirklich, daß...« begann Peter. »Wo glaubst du ihn denn gesehen zu haben?« fragte Suse. »Rede nur nicht so, als wenn du erwachsen wärest«, sagte Lucy und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich glaubte nicht, ihn zu sehen. Ich sah ihn.« »Wo denn, Lu?« fragte Peter.
»Gerade dort oben zwischen den Eschen. Nein, auf dieser Seite der Schlucht. Und oben, nicht unten. Gerade entgegengesetzt von der Richtung, die ihr nehmen wollt. Und er wollte uns dahin haben, wo er ist – nach oben.« »Wieso weißt du denn, was er wollte?« fragte Edmund. »Er – ich – ich weiß es eben«, antwortete Lucy. »Ich sah es an seinem Gesicht.« Die anderen blickten sich verwirrt an. »Eure Majestät kann durchaus einen Löwen gesehen haben«, warf Trumpkin ein. »Es gibt in diesen Wäldern Löwen, sagte man mir. Aber das braucht kein freundlicher und Sprechender Löwe gewesen zu sein, ebensowenig wie der Bär vorhin ein freundlicher und Sprechender Bär war.« »Oh, seid doch nicht so dumm«, beschwor Lucy sie. »Glaubt ihr etwa, ich erkenne Aslan nicht, wenn ich ihn sehe?« »Er muß jetzt ein ziemlich ältlicher Löwe sein«, meinte Trumpkin, »wenn Ihr ihn noch von damals kennt. Wenn es aber wirklich derselbe ist, warum könnte nicht auch er wild und dumpf wie so viele andere geworden sein?«
Lucy wurde purpurrot, und ich glaube, sie hätte sich auf Trumpkin gestürzt, wenn Peter nicht seine Hand auf ihren Arm gelegt hätte. »Der LKF versteht das nicht. Wie könnte er auch? Du mußt es schon hinnehmen, Trumpkin, daß wir wirklich einiges von Aslan wissen – ein klein wenig, will ich sagen. Und du mußt nicht wieder so über ihn reden. Erstens bringt es kein Glück, und zum anderen ist es Unsinn. Die einzige Frage ist die, ob Aslan wirklich da war.«
»Aber ich weiß es doch«, beteuerte Lucy, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja, Lu, aber wir doch nicht, das mußt du verstehen«, beruhigte Peter sie.
»Dann müssen wir abstimmen«, entschied Edmund. »Gut«, erwiderte Peter. »Du bist der älteste, LKF. Wofür stimmst du? Bergauf oder bergab?«
»Bergab«, sagte der Zwerg. »Ich weiß nichts von Aslan, aber ich weiß: wenn wir uns nach links wenden und in der Schlucht aufwärts steigen, können wir den ganzen Tag unterwegs sein, ohne eine Stelle zum Hinübergehen zu finden. Wogegen wir, wenn wir uns nach rechts wenden und abwärts gehen, auf alle Fälle in einigen Stunden den Großen Fluß treffen. Außerdem, wenn es hier richtige Löwen gibt, so sollten wir ihnen aus dem Wege und nicht entgegengehen.« »Was meinst du, Suse?« »Sei nicht böse, Lu«, sagte Suse, »aber ich glaube wirklich, wir sollten abwärts gehen. Ich bin totmüde. Laßt uns nur so schnell wie möglich aus diesem elenden Wald ins Freie gelangen. Und keiner von uns außer dir sah irgend etwas.« »Edmund?« fragte Peter.
»Wißt ihr, ich muß daran denken«, sagte Edmund ganz schnell und wurde dabei ein wenig rot, »als wir zuerst vor einem Jahr – oder vor tausend Jahren, wie es auch sein mag – Narnia entdeckten, da war es Lucy, die es zuerst fand, und keiner von uns wollte ihr glauben. Ich war der Schlimmste von euch, das weiß ich wohl. Dennoch hatte sie recht. Wäre es nicht richtig, ihr diesmal gleich zu glauben? Ich stimme für bergauf.« »Oh, Edi!« rief Lucy aus und ergriff seine Hand. »Und jetzt bist du an der Reihe, Peter«, sagte Suse, »und ich hoffe sehr... «
»Ach, schweig doch jetzt, halt den Mund und laß mich nachdenken«, unterbrach Peter sie. »Ich möchte am liebsten nicht wählen.«
»Ihr seid ein König«, bemerkte Trumpkin nachdrücklich. »Abwärts«, sagte Peter nach einer langen Pause. »Lucy mag recht haben, aber ich kann mir nicht anders helfen. So oder so müssen wir etwas tun.«
So setzten sie sich nach rechts, flußabwärts, am Rand des Abgrundes in Bewegung. Lucy ging als letzte und weinte bitterlich.
10. Die Rückkehr des Löwen
Es war gar nicht so leicht, wie es ausgesehen hatte, am Rand der Schlucht entlangzuwandern. Bereits nach wenigen Schritten standen sie vor einem Gehölz junger Kiefern, die an der äußersten Kante des Abhangs wuchsen. Zehn Minuten lang versuchten sie, sich hindurchzuzwängen, indem sie sich bückten und die Zweige beiseite schoben. Dann sahen sie ein, daß sie auf diese Weise für fünfhundert Meter wahrscheinlich nahezu eine Stunde brauchen würden. Sie krochen also wieder aus dem Dickicht heraus und beschlossen, um das Kieferngehölz herumzugehen. Das führte sie viel weiter nach rechts, als sie wollten – so weit, daß sie die Klippen nicht mehr sehen und den Fluß nicht mehr rauschen hören konnten. Sie fürchteten fast, ihn verloren zu haben. Keiner wußte, wie spät es war, aber der heißeste Teil des Tages war angebrochen. Als sie endlich an die Schlucht zurückfanden – ungefähr tausend Meter unterhalb der Stelle, von der sie aufgebrochen waren –, merkten sie, daß die Felsen auf ihrer Seite jetzt niedriger und zerklüfteter waren. Bald fanden sie einen Pfad in die Schlucht hinunter, und nun setzten sie ihren Weg am Ufer des Flusses fort, nachdem sie zuvor gerastet und reichlich getrunken hatten. Keiner redete mehr davon, bei Kaspian frühstücken zu wollen. Nicht einmal vom Mittagessen bei ihm sprach man. Es war sicherlich klug von ihnen, sich an den Sturzbach zu halten, statt auf der Höhe entlangzuwandern. So konnten sie nicht aus der Richtung kommen. Seit sie in dem Kiefernbruch herumgekrochen waren, fürchteten sie ständig, zu weit abgedrängt zu werden und sich dadurch im Wald zu verirren. Es war ein alter, pfadloser Wald, in dem man keine auch nur annähernd gerade Linie verfolgen konnte. Hoffnungslos verwucherte Brombeerbüsche, gestürzte Bäume, sumpfige Stellen und dichtes Unterholz hätten das Vorwärtskommen gehemmt. Aber die Schlucht des Sturzbaches war auch kein idealer Wanderweg – ich meine, kein idealer Wanderweg für eilige Leute. Um einen Nachmittag lang darin umherzuschweifen und dort ein Picknick zu veranstalten, wäre es eine entzückende Gegend gewesen. Sie bot alles, was man sich für ein solches Vorhaben nur wünschen kann – donnernde Wasserfälle, silbrige Wasseradern, tiefe bernsteinfarbene Wasserbecken, moosüberzogene Felsen, alle Sorten von Farnkräutern, wie Juwelen funkelnde Libellen und an den Ufern tiefes Moor, in das man bis zum Knöchel einsank; darüber gelegentlich ein Habicht und einmal sogar ein Adler, wie Trumpkin und Peter annahmen.
Während sie weiterwanderten, merkten sie, daß der Bach ein immer stärkeres Gefälle zeigte. Ihre Wanderung war kein Spaziergang mehr, sondern wurde mehr und mehr zur Kletterei – stellenweise zu einer gefährlichen Kletterei über schlüpfrige Felsen mit schwindelerregendem Blick in dunkle Abgründe, in deren Tiefe der Fluß böse brüllend schäumte. Natürlich suchten sie mit den Augen eifrig die Klippen links nach einem Durchbruch ab oder nach einer Stelle, die sie erklettern konnten, aber die Felsen blieben grausam undurchdringlich. Es war, um verrückt zu werden, weil sie wußten, wie nahe sie dem Ziel waren. Hätten sie nämlich links aus der Schlucht herausgekonnt, so hätten sie nur noch einen sanften Abhang zu bewältigen und einen ziemlich kurzen Weg nach Kaspians Hauptquartier zurückzulegen gehabt. Die Jungen und der Zwerg waren nun sehr dafür, ein Feuer anzumachen und das Bärenfleisch zu braten. Suse wollte das nicht. Sie wollte nur, wie sie sich ausdrückte: »Vorankommen, mit der Sache fertig werden und endlich aus diesen greulichen Wäldern heraus.« Lucy war viel zu elend und müde, um irgendeine Meinung über irgend etwas zu haben. Da es hier aber kein trockenes Feuerholz gab, so war es ohnehin ganz nebensächlich, was die einen oder anderen wünschten. Die Jungen überlegten, ob es wirklich so ekelerregend sei, rohes Fleisch zu essen, wie man ihnen immer gesagt hatte. Trumpkin versicherte es ihnen. Hätten diese Kinder einige Tage früher in England eine solche Wanderung unternommen, sie hätten sicherlich versagt. Ich habe aber schon früher erklärt, wie sehr Narnia sie veränderte. Selbst Lucy war jetzt sozusagen nur noch zu einem Drittel ein kleines Mädchen, das zum erstenmal in eine Internatsschule gehen sollte; zu zwei Drittel war sie jetzt Königin Lucy von Narnia. »Endlich!« rief Suse aus. »Hurra!« schrie Peter.
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