»Und hoffentlich hast du recht«, meinte Suse. »Auf all das kann ich mich nicht mehr besinnen.« »Das ist bei den Mädchen leider immer so«, bemerkte Edmund zu Peter und dem Zwerg. »Sie können niemals eine Landkarte im Kopf behalten.«
»Weil in unseren Köpfen nämlich schon etwas anderes drin ist«, erwiderte Lucy.
Anfangs schien alles gutzugehen. Sie glaubten sogar, auf einen alten Pfad geraten zu sein. Aber wenn ihr etwas von Wäldern versteht, wißt ihr, wie oft man auf solche vermeintlichen Pfade stößt. Nach einigen Minuten sind sie dann plötzlich zu Ende, und man stößt auf den nächsten, wobei man hofft, es möge kein anderer Pfad, sondern ein Stück des ersten sein, und der verschwindet auch, und wenn man dann völlig aus der Richtung geraten ist, erkennt man, daß keiner von allen ein richtiger Weg war. Die Jungen und der Zwerg allerdings waren mit Wäldern vertraut und ließen sich nur ganz kurze Zeit täuschen. Etwa eine halbe Stunde lang waren sie dahingetrottet – drei von ihnen waren nach dem gestrigen Rudern noch recht steif –, als Trumpkin plötzlich wisperte: »Halt!« Sie blieben stehen. »Irgend etwas folgt uns«, sagte er leise, »oder vielmehr, irgend etwas versucht, mit uns Schritt zu halten – drüben an der linken Seite.« Sie standen, lauschten und starrten hinüber, bis ihnen Ohren und Augen schmerzten. »Wir beiden sollten Pfeile in unsere Bogen stecken«, sagte Suse zu Trumpkin. Der Zwerg nickte, und als beide Bogen schußbereit waren, ging die Gruppe weiter. Sie wanderten einige Dutzend Meter durch ziemlich freies Waldgelände und waren sehr auf der Hut. Dann wurde das Unterholz dichter, und sie mußten sich dem verdächtigen Ding nähern. Als sie dicht daran waren, brach plötzlich aus krachenden Zweigen mit heißem Atem wie ein Blitz etwas Knurrendes. Lucy wurde umgestoßen und hörte, während sie hinfiel, den Ton der Bogensehne. Als sie wieder etwas wahrnehmen konnte, sah sie einen großen, grauen, grimmig aussehenden Bären mit Trumpkins Pfeil in der Seite tot daliegen.
»Bei diesem Schießen um die Wette hat dich der LKF ausgestochen, Suse«, sagte Peter und lächelte etwas gezwungen. Selbst ihn hatte dieses Abenteuer mitgenommen. »Ich – ich war zu langsam«, meinte Suse mit verlegener Stimme. »Ich fürchtete, es könne einer von unseren Bären, ein Sprechender Bär sein.« Sie haßte das Töten.
»Das macht es eben so schwierig«, entgegnete Trumpkin, »wenn die meisten Tiere feindselig und stumm geworden sind, aber noch einige von der anderen Art leben. Man weiß niemals, was man vor sich hat, wagt aber nicht, abzuwarten.« »Guter alter Bruin«, sagte Suse. »Der kann es doch nicht etwa gewesen sein?«
»Nein, der nicht«, erwiderte der Zwerg. »Von diesem da sah ich das Gesicht und hörte das Knurren. Er wollte nur das kleine Mädchen zum Frühstück verspeisen. Da wir gerade von Frühstück sprechen – ich wollte Eure Majestät nicht enttäuschen, als Ihr hofftet, König Kaspian werde Euch ein gutes Frühstück auftischen, aber Fleisch ist im Heerlager sehr knapp. Und Bärenfleisch schmeckt sehr gut. Es wäre eine Schande, den Kadaver liegenzulassen, ohne etwas davon zu nehmen. Es würde uns nicht länger als eine halbe Stunde aufhalten, etwas abzuschneiden. Ich nehme an, ihr beiden jungen Burschen – Könige wollte ich sagen – wißt, wie man einen Bären häutet?« »Laßt uns ein Stück weitergehen und uns niedersetzen«, schlug Suse Lucy vor. »Ich weiß, was das für eine greuliche Sache ist.« Lucy schüttelte sich und nickte. Als sie sich niedergelassen hatten, sagte sie: »Mir ist ein schrecklicher Gedanke gekommen, Suse.«
»Was für einer?«
»Wie entsetzlich wäre es, wenn eines Tages in unserer Welt Menschen, die unter uns leben, wild würden wie die Tiere hier und dabei noch weiter wie Menschen aussähen. Man wüßte dann niemals, welches die einen und welches die anderen sind!« »Wir haben genug Plage hier und später in Narnia«, meinte die praktische Suse, »und sollten uns nicht nur solche Dinge ausmalen.«
Als sie wieder mit den Jungen und dem Zwerg zusammentrafen, war inzwischen von dem besten Fleisch soviel abgeschnitten, wie sie glaubten tragen zu können. Es ist keine angenehme Sache, sich die Taschen mit rohem Fleisch zu füllen, aber sie schlugen es in frische Blätter ein und fanden sich damit ab, so gut es ging. Alle waren sie erfahren genug, um zu wissen, daß sie über diese wabbeligen und unappetitlichen Packen später ganz anders denken würden. Sie mußten nur erst lange genug marschiert und wirklich hungrig geworden sein. Sie schleppten sich weiter und machten nur Pause, um drei Paar Hände im ersten Bach zu waschen, den sie trafen, bis die Sonne aufging, die Vögel zu singen begannen und mehr Fliegen in den Farnen summten, als ihnen angenehm war. Sie waren nun nicht mehr ganz so steif von den gestrigem Rudern wie anfangs. Ihre Laune hob sich. Die Sonne wurde wärmer, und so nahmen sie ihre Helme ab und trugen sie in der Hand.
»Wir gehen doch bestimmt richtig?« fragte Edmund nach etwa einer Stunde.
»Meiner Meinung nach kann es nicht verkehrt sein, solange wir uns nicht zu sehr nach links wenden«, antwortete Peter. »Halten wir uns zu sehr nach rechts, so verlieren wir schlimmstenfalls etwas Zeit und stoßen zu bald auf den Großen Fluß, ohne eine Schleife abzuschneiden.«
Wieder marschierten sie langsam weiter, ohne einen Laut von sich zu geben. Man hörte nur, wie ihre Füße schlurften und ihre Kettenhemden klirrten.
»Wo ist denn dieser blöde Sturzbach hingeraten?« fragte Edmund nach geraumer Zeit.
»Eigentlich hätten wir ihn schon erreicht haben müssen, meine ich«, erwiderte Peter, »aber es bleibt uns nichts übrig, als weiterzugehen.« Sie fühlten beide, wie der Zwerg sie ängstlich betrachtete, aber er sagte nichts.
Sie schleppten sich weiter, und ihre Panzer wurden immer schwerer und heißer.
»Was zum Donnerwetter bedeutet das?« rief Peter plötzlich aus. Sie waren, ohne es zu merken, fast an den Rand eines Abgrundes gekommen, von wo sie in eine Schlucht blickten. Unten schäumte ein Fluß. Auf der anderen Seite erhoben sich ziemlich hohe Klippen. Sie waren alle – außer Edmund und vielleicht Trumpkin – nicht im Klettern geübt. »Es tut mir leid«, sagte Peter. »Es ist mein Fehler, daß wir hierhergekommen sind. Wir haben uns verirrt. Diese Gegend habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.« Der Zwerg gab einen Pfiff von sich.
»Oh, laßt uns zurückgehen und den anderen Weg nehmen«, rief Suse. »Ich wußte ja, wir würden uns in diesen Wäldern verirren.«
»Suse«, entgegnete Lucy vorwurfsvoll, »hacke doch nicht immer so auf Peter herum. Das ist häßlich, und er tut doch, was er kann.«
»Und meckere du nicht immer über Suse«, warf Edmund dazwischen. »Ich meine, sie hat völlig recht.« »Schellfisch und Schildkröten!« rief Trumpkin aus. »Wenn wir uns auf dem Herweg verirrt haben, wie können wir dann den Rückweg finden? Wenn wir aber auf die Insel zurückkehren und von vorn anfangen müssen – gesetzt den Fall, wir können es überhaupt –, so wäre es am besten, die ganze Sache aufzugeben. Jedenfalls ist Miraz dann mit Kaspian fertig, bevor wir ihn erreichen.«
»Meinst du, wir sollten weitergehen?« fragte Lucy. »Ich bin nicht ganz überzeugt davon, daß König Peter sich verirrt hat«, meinte Trumpkin. »Wer sagt denn, daß dieser Fluß nicht der Sturzbach ist?«
»Weil der Sturzbach nicht in einer Schlucht ist«, antwortete Peter und hielt mit Mühe an sich. »Eure Majestät sagt: ist« , erwiderte der Zwerg. »Solltet Ihr nicht lieber sagen: war? Ihr kanntet dieses Land vor Hunderten von Jahren – vielleicht vor tausend Jahren. Kann es sich nicht verändert haben? Ein Erdrutsch kann die Hälfte dieses Berges dort herabgerissen und nackte Felsen zurückgelassen haben, und schon habt Ihr die Klippen jenseits der Schlucht. Der Sturzbach kann sein Bett Jahr für Jahr ausgehöhlt haben, bis die kleinen Abhänge auf dieser Seite entstanden. Vielleicht aber hat sich auch ein Erdbeben oder etwas Ähnliches ereignet.« »Daran habe ich nicht gedacht«, gab Peter zu. »Immerhin«, fuhr Trumpkin fort, »selbst wenn dies nicht der Sturzbach ist, so fließt er doch ungefähr nach Norden und muß also in den Großen Fluß münden. Mir ist so, als hätte ich etwas Ähnliches auf meinem Herweg gesehen. Wenn wir also nach rechts fußabwärts gehen, so werden wir auf den Großen Fluß stoßen, wenn auch vielleicht nicht so weit oben, wie wir hofften. Wenigstens werden wir nicht schlechter abschneiden, als hättet Ihr meinen Weg genommen.«
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