»Harfang!«, rief Eustachius.
»Das ist ja alles schön und gut«, entgegnete Trauerpfützler. »Aber ich wollte sagen, dass ...«
»Ach, sei ruhig«, rief Jill ungehalten. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wisst ihr nicht mehr, dass die Dame gesagt hat, sie schließen die Tore schon sehr früh? Wir müssen rechtzeitig dort ankommen, wir müssen, wir müssen! Wir werden sterben, wenn wir eine solche Nacht draußen verbringen müssen.«
»Nun, es ist ja nicht gerade Nacht, zumindest noch nicht«, begann Trauerpfützler. Aber die beiden Kinder sagten: »Los!«, und begannen auf dem schlüpfrigen Tafelland vorwärts zu stolpern, so schnell ihre Beine sie trugen. Der Moorwackler folgte ihnen; er redete noch immer, aber jetzt, wo sie wieder gegen den Wind ankämpften, hätten sie ihn auch dann nicht gehört, wenn sie es gewollt hätten. Und sie wollten nicht. Sie dachten an Bäder und Betten und heiße Getränke; und der Gedanke, sie könnten zu spät in Harfang ankommen und ausgeschlossen werden, war fast unerträglich.
Trotz ihrer Hast brauchten sie lange, um die flache Kuppe des Hügels zu überqueren. Und als sie ihn überquert hatten, mussten sie auf der anderen Seite noch über mehrere Felsensimse hinunterklettern. Aber schließlich waren sie unten angekommen und konnten sehen, wie Harfang aussah.
Es stand auf einem hohen Felsen und trotz seiner vielen Türme war es eher ein riesiges Haus als ein Schloss. Offensichtlich hatten die sanften Riesen keine Angst vor einem Angriff. In der äußeren Mauer waren dicht über dem Boden Fenster – etwas, was in einer richtigen Festung undenkbar gewesen wäre. Es gab da und dort sogar komische kleine Türen, sodass es recht einfach war, in das Schloss hinein- und wieder herauszugelangen ohne über den Schlosshof zu gehen. Das gab Eustachius und Jill neuen Mut. Dadurch sah das Ganze freundlicher und nicht so gefährlich aus.
Zuerst hatten sie Angst vor dem hohen und steilen Felsen, doch dann sahen sie, dass links ein bequemerer Weg hinaufführte, und genau auf den schlängelte sich die Straße zu. Aber es war trotzdem eine schreckliche Kletterei nach der weiten Strecke, die sie schon zurückgelegt hatten, und Jill hätte fast aufgegeben. Eustachius und Trauerpfützler mussten ihr die letzten hundert Meter hinaufhelfen. Aber schließlich und endlich standen sie vor dem Schlosstor. Das Fallgitter war hochgezogen und das Tor stand offen.
Wie müde man auch sein mag, es gehört schon etwas dazu, auf die Haustür eines Riesen zuzugehen. Trotz all seiner vorherigen Warnungen war es Trauerpfützler, der am meisten Mut bewies.
»Geht jetzt ganz ruhig und gleichmäßig«, sagte er. »Lasst euch nicht anmerken, dass ihr Angst habt. Es war ganz und gar töricht, überhaupt hierher zu kommen; aber jetzt, wo wir hier sind, müssen wir so tun, als hätten wir keine Angst.«
Mit diesen Worten trat er in den Toreingang, blieb unter der Wölbung stehen, wo der Hall seine Stimme unterstützte, und rief, so laut er konnte, hinein.
»Hallo! Wärter! Hier sind Gäste und suchen Unterkunft!«
Und während er darauf wartete, dass etwas geschah, nahm er den Hut ab und klopfte den Schnee ab, der sich auf der breiten Krempe angesammelt hatte.
»Also ich muss schon sagen«, flüsterte Eustachius Jill zu. »Er mag ja vielleicht ein Miesmacher sein, aber er ist ganz schön mutig – und frech.«
Eine Tür öffnete sich, durch die von drinnen der wunderschöne Schimmer eines Feuers fiel. Ein Wärter trat heraus. Jill biss sich auf die Lippen, um einen Schrei zu unterdrücken. Es war kein wirklich riesiger Riese; das heißt, er war größer als ein Apfelbaum, aber nicht ganz so groß wie ein Telegrafenmast. Er hatte struppiges rotes Haar, trug ein Lederwams, auf dem überall Metallplättchen befestigt waren, was das Ganze zu einer Art Kettenhemd machte, hatte nackte Knie (die furchtbar haarig waren) und so etwas wie Wickelgamaschen an den Beinen. Er beugte sich herunter und glotzte Trauerpfützler an.
»Was für ein Geschöpf magst du wohl sein?«, fragte er.
Jill nahm das Herz in beide Hände. »Bitte«, rief sie zu dem Riesen empor, »die grün gewandete Dame lässt den König der sanften Riesen grüßen und schickt zwei Kinder aus dem Süden und diesen Moorwackler – er heißt Trauerpfützler – für euer Herbstfest. Natürlich nur, wenn es euch genehm ist«, fügte sie hinzu.
»O-ho!«, meinte der Wärter. »Das ist etwas anderes. Kommt herein, ihr kleinen Leute, kommt herein. Ihr kommt am besten ins Wärterhaus, während ich Seine Majestät benachrichtige.« Er schaute die Kinder neugierig an. »Blaue Gesichter«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass sie diese Farbe haben. Mir gefallen sie jedenfalls nicht. Aber ich nehme an, dass ihr euch untereinander gefallt. Käfer mögen Käfer, wie man sagt.«
»Unsere Gesichter sind blau vor Kälte«, erklärte Jill. »Wir haben nicht wirklich diese Farbe.«
»Dann kommt herein und wärmt euch auf. Kommt herein, ihr kleinen Krabben«, sagte der Wärter. Sie folgten ihm ins Wärterhaus. Und obwohl es ziemlich schrecklich war, so eine große Tür hinter sich zuschlagen zu hören, vergaßen sie es, sobald sie sahen, wonach sie sich seit gestern Abend gesehnt hatten – ein Feuer. Und was für ein Feuer! Es sah so aus, als loderten vier oder fünf ganze Bäume darin, und es war so heiß, dass sie ein paar Meter Abstand halten mussten. Aber sie ließen sich alle auf den Steinfußboden fallen, so nah beim Feuer, wie sie es ertragen konnten, und seufzten tief vor Erleichterung.
»So, Kleiner«, sagte der Wärter zu einem anderen jüngeren Riesen, der hinten im Raum gesessen und die Besucher so lange angestarrt hatte, bis es aussah, als müssten ihm gleich die Augen herausfallen. »Renn mit der Nachricht hinüber zum Königshaus.« Und er wiederholte, was Jill ihm gesagt hatte. Nachdem der junge Riese die Fremden noch ein letztes Mal angestarrt und dann schallend gelacht hatte, verließ er den Raum.
»So, Fröschchen«, sagte der Wärter zu Trauerpfützler, »du siehst so aus, als könntest du eine Aufmunterung vertragen.« Er holte eine schwarze Flasche hervor, die auffällig Trauerpfützlers Flasche glich, nur war sie etwa zwanzigmal größer. »Lass mich mal sehen, lass mich mal sehen«, sagte der Wärter. »Ich kann dir keinen Becher geben, sonst ertränkst du dich. Lass mich mal sehen. Dieses Salzfässchen ist genau das Richtige. Aber sagt im Königshaus drüben nichts davon. Das Silber taucht immer wieder hier auf und meine Schuld ist es nicht.«
Das Salzfässchen gab einen recht guten Becher für Trauerpfützler ab, als der Riese es neben ihm auf den Boden stellte.
Die Kinder erwarteten, Trauerpfützler würde ablehnen, so misstrauisch, wie er nun mal war. Doch er brummte: »Es ist witzlos, jetzt, wo wir hier drin sind und die Tür hinter uns zu ist, noch Vorsicht walten zu lassen.« Dann roch er an dem Schnaps. »Riecht gut«, meinte er. »Aber danach kann man nicht gehen. Ich muss mich vergewissern« und er nahm ein kleines Schlückchen. »Schmeckt auch gut«, sagte er. »Aber vielleicht nur beim ersten Schluck. Wie mag wohl der nächste schmecken?« Er nahm einen größeren Schluck. »Ah!«, machte er. »Aber ob es wohl bis zum letzten Tropfen so gut schmeckt?« Und er trank weiter. »Es würde mich nicht wundern, wenn ganz unten noch etwas Übles käme«, sagte er und trank aus. Er schleckte sich die Lippen und bemerkte, zu den Kindern gewandt: »Das ist ein Test, versteht ihr? Wenn ich zusammenbreche oder platze, mich in eine Eidechse oder sonst irgendetwas verwandle, dann wisst ihr, dass ihr nichts annehmen dürft, was sie euch anbieten.«
Doch der Riese, der zu groß war um zu hören, was Trauerpfützler vor sich hin murmelte, brach in schallendes Gelächter aus und rief: »Ich muss schon sagen, Fröschlein, du bist ein richtiger Mann. Wie du das hinter die Binde gekippt hast!«
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