Trotzdem er absurd war, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los. Sein eigenes Volk …
Tari hatte ihr eigenes Volk, ihre Familie, die aus Tammis und Clannia Foxton bestand. Man schätzte und liebte sie. Er war froh, dass sie so liebevoll aufwuchs, denn nur dank dieser Sicherheit hatte sie selbst die Herzenswärme entwickeln können, mit der sie ihm begegnete.
Manchmal fragte er sich, was die anderen Foxtons von ihm hielten. Tari erwähnte sie kaum noch. Sie hatte ihm erzählt, dass ihre Mutter Clannia ihn an ihrer Brust gesäugt hatte, um sein Leben zu retten. Zuerst hatte dies Thrall berührt, doch als er älter wurde und mehr lernte, verstand er, dass Clannia es nicht aus Liebe zu ihm getan hatte, sondern nur um ihre Position bei Blackmoore zu verbessern.
Blackmoore. Alle Pfade seiner Gedanken endeten bei ihm. Wenn er Tari schrieb oder ihre Briefe las, oder wenn er in den Zuschauerrängen während der Gladiatorenkämpfe nach ihrem goldenen Haar suchte, konnte er vergessen, dass er jemandem gehörte. Er konnte sich auch in den aufregenden Momenten verlieren, die Sergeant »Blutgier« nannte, aber diese Augenblicke waren nur kurz. Selbst wenn Blackmoore Thrall besuchte, um über eine militärische Strategie zu sprechen, die Thrall studiert hatte, oder um eine Runde Falken und Hasen zu spielen, gab es keine Zuneigung, kein Gefühl von Familie, das ihn mit diesem Mann verband. Wenn Blackmoore in jovialer Stimmung war, sprach er mit ihm wie mit einem Kind. Und wenn er verärgert war und voll dunkler Wut, was häufiger vorkam, fühlte sich Thrall hilflos wie ein Neugeborenes. Blackmoore konnte befehlen, dass man ihn schlug oder aushungerte oder verbrannte oder ankettete, oder – das wäre die schlimmste aller Strafen gewesen, die Blackmoore aber zum Glück noch nicht eingefallen war – er konnte ihm seine Bücher verbieten.
Thrall wusste, dass Tari kein privilegiertes Leben führte, nicht verglichen mit dem Blackmoores. Sie war eine Dienerin und damit beinahe eine Sklavin, auch wenn man nur den Ork Sklave nannte. Aber sie hatte Freunde, sie wurde nicht angespuckt, sie hatte einen Platz gefunden.
Langsam, ohne dass er es selbst wollte, bewegte sich seine Hand und griff nach dem blauen Wickeltuch. In diesem Moment hörte er, wie die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde. Er ließ das Tuch fallen, als sei es etwas Schmutziges.
»Komm schon«, sagte einer der schlecht gelaunten Wächter und reichte ihm die Ketten. »Zeit zu kämpfen. Ich habe gehört, sie haben heute einen ziemlich guten Gegner für dich.« Er grinste humorlos und entblößte seine fleckigen Zähne. »Und Lord Blackmoore wird dir das Fell über die Ohren ziehen, wenn du nicht gewinnst.«
Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit Leutnant Blackmoore auf einen Schlag einen elternlosen Ork und die Möglichkeit zur Erfüllung all seiner Träume gefunden hatte.
Für Thralls Herrn und die Menschheit im allgemeinen waren es gute und fruchtbare Jahre gewesen. Aedelas Blackmoore, einst Leutnant, nun Generalleutnant , hatte mit Spott leben müssen, als er seinen »Haus-Ork« zum ersten Mal nach Durnholde brachte. Das lag vor allem daran, dass niemand glaubte, das unglückliche kleine Ding könne überleben. Zum Glück hatte es Mistress Foxton und ihre prallen Brüste gegeben. Blackmoore konnte nicht verstehen, wie eine menschliche Frau es über sich brachte, einen Ork zu säugen. Dieses Angebot hatte seine Verachtung für seinen Diener und dessen Familie noch verstärkt, gleichzeitig jedoch Blackmoores Hintern gerettet. Deshalb hatte er ihnen Spielzeug, Essen und Bildung für ihr Kind geschenkt, obwohl es nur ein Mädchen war.
Es war ein schöner Tag, warm, aber nicht heiß. Das perfekte Kampfwetter. Der Baldachin mit seinen rot-goldenen Farben sorgte für angenehmen Schatten. Bunte Banner tanzten in einer leichten Brise, Musik und Gelächter umspielten Blackmoores Ohren. Der Geruch von reifen Früchten, frischem Brot und gegrilltem Wild lockte seine Nase. Jeder hier war bester Stimmung. Nach den Kämpfen würden einige nicht mehr so gut gelaunt sein, aber noch waren alle zufrieden und voller Erwartung.
Neben ihm lag, ausgestreckt auf einem gepolsterten Möbel, sein junger Protege Lord Karramyn Langston. Langston hatte dichtes braunes Haar, das zu seinen dunklen Augen passte, einen gestählten Körper und ein gewinnendes Lächeln. Außerdem verehrte er Blackmoore und war der einzige Mensch, dem dieser von seinem eigentlichen Plan erzählt hatte. Obwohl Langston wesentlich jünger als er war, teilte er viele von Blackmoores Idealen und seine Skrupellosigkeit. Sie passten gut zusammen. Langston war im warmen Sonnenschein eingeschlafen und schnarchte leise.
Blackmoore griff nach einem Stück gegrilltem Fasan und einem Kelch Rotwein, der so rot war wie das Blut, das bald in der Arena vergossen werden würde. Das Leben war wunderbar, und mit jeder Herausforderung, die Thrall meisterte, wurde es besser.
Blackmoore verließ die Arena nach den Kämpfen stets mit prall gefüllter Börse. Sein »Haus-Ork«, einst die Schande der Festung, war jetzt sein ganzer Stolz.
Natürlich waren die meisten Gegner Thralls Menschen – zwar einige der stärksten, gemeinsten und hinterhältigsten Menschen, aber doch letztendlich nur Menschen. Die anderen Gladiatoren waren brutale, abgebrühte Sträflinge, die versuchten, dem Kerker zu entrinnen, indem sie ihren Herren Geld und Ruhm verschafften. Einigen gelang dies, und sie erhielten ihre Freiheit. Die meisten aber tauschten ihr Gefängnis nur gegen ein anderes mit Teppichen an den Wänden und Frauen in ihren Betten, das trotz allem ein Gefängnis blieb. Die wenigsten Lords ließen ihre Gewinngaranten als freie Männer herumlaufen.
Aber einige von Thralls Gegnern waren nicht menschlich, und wenn er auf diese traf, wurde es interessant.
Es berührte Blackmoores Ehrgeiz nicht, dass die Orks geschlagen und am Boden waren und längst nicht mehr die furchteinflößende Streitmacht darstellten wie einst. Der Krieg war vorbei, und die Menschen hatten die Entscheidungsschlacht gewonnen. Jetzt ließ sich der Feind in spezielle Lager führen, beinahe so wie man Vieh nach einem Tag auf der Weide in den Stall bringt. Lager, dachte Blackmoore gutgelaunt, die allein er leitete.
Sein ursprünglicher Plan war gewesen, einen Ork zu einem guterzogenen loyalen Sklaven und einem furchtlosen Krieger zu erziehen. Er hatte Thrall aussenden wollen, um sein eigenes Volk zu besiegen – falls »Volk« ein passendes Wort für die hirnlosen grünen Raufbolde war. Nach ihrer Vernichtung hatte Blackmoore die zerstörten Clans in seinem Sinne einsetzen wollen.
Aber die Horde war von der Allianz besiegt worden, bevor Thrall seine erste Schlacht erleben durfte. Zuerst war Blackmoore darüber verärgert gewesen. Doch dann war ihm ein anderer Gedanke gekommen, wie er seinen Haus-Ork doch noch einsetzen könnte. Es setzte jedoch Geduld voraus, und davon hatte Blackmoore nur sehr wenig. Die Belohnung für die Geduld würde jedoch größer sein, als er es sich je erhofft hatte. Die inneren Streitigkeiten drohten, die Allianz zu zerreißen. Elfen verachteten Menschen, Menschen beleidigten Zwerge, und Zwerge misstrauten Elfen. Ein hübsches Geflecht aus Vorurteilen und gegenseitigen Verdächtigungen …
Er erhob sich von seinem Stuhl und beobachtete, wie Thrall einen der größten und gefährlichsten Männer besiegte, die Blackmoore je gesehen hatte. Der menschliche Gegner hatte keine Chance gegen die unbezähmbare grüne Bestie. Die Menge jubelte, und Blackmoore lächelte. Er winkte Tammis Foxton heran, und der Diener eilte gehorsam zu ihm.
»Herr?«
»Wie viele sind es heute?« Blackmoore wusste, dass er lallte, aber das störte ihn nicht. Tammis hatte ihn schon betrunkener erlebt. Tammis hatte ihn sogar schon betrunken zu Bett gebracht.
Tammis’ langes ängstliches Gesicht wirkte noch besorgter als sonst. Sein Blick zuckte zu den Flaschen und dann zurück zu Blackmoore.
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