Gnade. Lautlos wiederholte Thrall das Wort und ließ es über seine Zunge rollen. Es war ein schönes Wort, es gefiel ihm.
»Du hast ihn das mit dir machen lassen?« Obwohl Tammis dieser speziellen Unterhaltung zwischen seinem Herrn und dem Mann, den er angeheuert hatte, um Thrall auszubilden, nicht unmittelbar beiwohnen durfte, drang Blackmoores schrille Stimme bis zu ihm vor. Tammis hörte auf, den Lehm von Blackmoores Stiefeln zu wischen und beugte sich vor, um angestrengter zu lauschen. Obwohl … er sah es nicht als Lauschen an, sondern als einen wichtigen Beitrag, um das Wohlergehen seiner Familie zu schützen.
»Es war eine gute Kampftaktik.« Sergeant Irgendwie klang nicht, als würde er sich rechtfertigen. »Also ging ich damit um, wie mit dem Angriff jedes anderen Mannes.«
»Aber Thrall ist kein Mann, er ist ein Ork! Oder ist dir das nicht aufgefallen?«
»Doch, das ist es«, erwiderte der Sergeant. Tammis bewegte sich, bis er durch die halb geschlossene Tür spähen konnte. Sergeant passte nicht so recht in Blackmoores üppig dekoriertes Empfangszimmer. »Und mir steht die Frage nicht zu, weshalb Ihr ihn so umfassend ausbilden lasst.«
»Da hast du Recht.«
»Aber Ihr wollt , dass er umfassend ausgebildet wird«, sagte der Sergeant, »und genau das tue ich.«
»Indem du dich fast von ihm umbringen lässt?«
»Indem ich eine gute Taktik lobe, und indem ich ihm beibringe, wann seine Blutgier gut ist, und wann er einen kühlen Kopf bewahren muss«, grollte der Sergeant.
Tammis unterdrückte ein Lächeln. Scheinbar fiel es dem Sergeant schwer, seinen eigenen Rat zu befolgen und Ruhe im passenden Augenblick zu bewahren.
»Aber deshalb komme ich nicht zu Euch. Man hat mir gesagt, Ihr hättet ihm das Lesen beigebracht. Ich möchte, dass er sich ein paar Bücher ansieht.«
Tammis starrte ihn an.
»Was?«, schrie Blackmoore.
Tammis hatte seine Arbeit völlig vergessen. Er linste durch den Türspalt, eine Bürste in der einen, einen dreckigen Stiefel in der anderen Hand und lauschte konzentriert. Als jemand ihm leicht auf die Schulter tippte, schrie er beinahe auf.
Mit klopfendem Herzen fuhr er herum und sah Taretha. Sie grinste ihn schräg an. Der Blick ihrer blauen Augen glitt von ihrem Vater zur Tür. Sie wusste offensichtlich genau, was er tat.
Tammis war es peinlich. Aber dieses Gefühl wurde von dem Verlangen übertroffen zu erfahren, was als nächstes geschehen würde. Er legte einen Finger auf die Lippen, und Taretha nickte verstehend.
»Nun, warum bringt Ihr einem Ork das Lesen bei, wenn er nicht lesen soll?«
Blackmoore murmelte etwas Unverständliches.
»Er hat ein Gehirn, was auch immer Ihr sonst von ihm denken mögt. Wenn ich ihn so ausbilden soll, wie Ihr es erwartet, muss er Kampftaktiken lernen, Karten studieren, Strategien, Belagerungstechniken …«
Der Sergeant zählte die Dinge ruhig an seinen Fingern ab.
»Also gut!«, explodierte Blackmoore. »Ich werde das vermutlich irgendwann bereuen …« Er ging zu einer Bücherwand und suchte rasch einige Folianten heraus. »Taretha!«, brüllte er dann.
Der ältere Foxton-Diener und die jüngere Dienerin zuckten gemeinschaftlich zusammen. Taretha glättete ihr Haar, machte ein freundliches Gesicht und betrat den Raum.
Sie machte einen Knicks. »Ja, Sir?«
»Hier.« Er reichte ihr die Bücher. Sie waren groß und lagen schwer auf ihren Armen. Sie sah ihn über den Rand des obersten Bandes an, konnte gerade noch darüber hinweg blicken. »Gib das Thralls Wächter, damit er es an ihn übergibt.«
»Ja, Sir«, antwortete Taretha, als würde ihr so etwas jeden Tag befohlen. Dabei war es einer der schockierendsten Befehle, die Tammis seinen Herrn je hatte aussprechen hören. »Sie sind etwas schwer, Sir … darf ich in mein Quartier gehen, um einen Sack zu holen? Darin kann ich sie leichter tragen.«
Sie wirkte ganz wie ein gehorsames Dienstmädchen. Nur Tammis und Clannia wussten, welch scharfer Verstand – und welch scharfe Zunge – sich hinter dem verführerisch hübschen Antlitz verbarg. Blackmoore wurde etwas freundlicher und strich über ihr helles Haar.
»Natürlich, Kind. Aber bringe sie ihm direkt, verstanden?«
»Aber ja, Sir. Danke, Sir.« Sie schien einen Knicks versuchen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders und ging.
Tammis schloss die Tür hinter ihr. Taretha drehte sich mit großen leuchtenden Augen zu ihm um. »Oh, Pa!«, stieß sie mit leiser, kaum hörbarer Stimme hervor. »Ich werde ihn sehen !«
Tammis’ Stimmung sank. Er hatte gehofft, dass sie ihr verstörendes Interesse an dem Ork verloren hatte. »Nein, Taretha. Du gibst die Bücher nur den Wächtern, das ist alles.«
Sie senkte den Kopf und wandte sich traurig ab. »Es ist nur … seit Faralyns Tod … ist er der einzige kleine Bruder, den ich noch habe.«
»Er ist nicht dein Bruder, er ist ein Ork. Ein Tier, das nur für Kerker oder Gladiatorenkämpfe taugt. Vergiss das nicht.«
Tammis hasste es, seine Tochter zu enttäuschen, aber es geschah nur zu ihrem Besten. Niemand durfte erfahren, dass sie sich für Thrall interessierte. Wenn Blackmoore es jemals herausfand, würde es nichts Gutes nach sich ziehen.
Thrall schlief fest. Er war erschöpft von den aufregenden Übungen des Tages, als die Tür zu seiner Zelle aufgestoßen wurde. Er blinzelte verschlafen und stand auf. Einer der Wächter trat mit einem großen Sack in den Händen ein.
»Der Leutnant sagt, die sind für dich. Er will, dass du sie liest und dich dann mit ihm darüber unterhältst«, sagte der Wächter. Da war ein Ansatz von Verachtung in seiner Stimme, aber Thrall beachtete es nicht. Die Wachen sprachen immer mit Verachtung zu ihm.
Die Tür wurde zugezogen und verschlossen. Thrall betrachtete den Sack. Mit einer Vorsicht, die nicht zu seiner riesenhaften Größe passte, öffnete der den Knoten und sah hinein. Seine Finger schlossen sich um etwas Rechteckiges und Hartes, das leicht nachgab.
Das konnte nicht sein. Er erinnerte sich an das Gefühl …
Er wagte kaum zu hoffen, als er es aus dem Sack ins Halbdunkel seiner Zelle zog und anstarrte.
Es war tatsächlich ein Buch.
Er las den Titel laut vor: »Die Geschichte der Allianz von Lor-Lordaeron.« Enthusiastisch griff er nach einem zweiten Buch, dann nach einem dritten. Es waren alles Werke über das Kriegshandwerk. Als er eines der Bücher aufschlug, fiel etwas auf den strohbedeckten Zellenboden. Es war ein kleines, mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier.
Neugierig – und wegen seiner großen Finger langsam – faltete er es auseinander. Es war ein Brief. Seine Lippen bewegten sich, aber er las nicht laut.
Lieber Thrall,
unser Lord B. hat befohlen, dass du diese Bücher haben sollst. Ich freue mich so für dich. Ich wusste nicht, dass du lesen lernen durftest. Er hat es mich lernen lassen, und ich lese sehr gerne. Ich vermisse dich und hoffe, dass es dir gut geht. Was sie mit dir im Hof machen, sieht aus, als würde es weh tun, aber ich hoffe, du bist in Ordnung. Ich würde gerne weiter mit dir reden. Willst du das auch? Wenn ja, schreibe eine Notiz auf die Rückseite dieses Blatts und lege es wieder gefaltet ins Buch zurück. Ich werde versuchen dich zu besuchen. Wenn das nicht klappt, suche du nach mir. Ich bin das kleine Mädchen, das dir einmal zugewunken hat. Ich hoffe, du schreibst zurück!!!!
In Liebe,
Taretha
P.S.: Sage niemandem etwas über diesen Brief, oder wir kriegen GROSSE SCHWIERIGKEITEN!!!
Thrall setzte sich schwer hin. Er konnte kaum glauben, was er gerade gelesen hatte. Er erinnerte sich an das kleine Mädchen, hatte sich damals gefragt, weshalb es ihm gewunken hatte. Es kannte ihn offensichtlich … und mochte ihn. Wie konnte das sein? Wer war dieses Menschenkind?
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