Damals hatten ihn die unfreundlichen Worte schockiert, nun störten sie ihn längst nicht mehr. Thrall hatte begriffen. Er verstand viele Dinge. Es war, als sei sein Blick voller Nebel gewesen und erst jetzt klar geworden. Er lag ruhig da, bis sie fertig waren, aufstanden und gingen.
Thrall setzte sich auf und war überrascht, als er Sergeant vor sich stehen sah. Er hatte seine haarigen Arme über der breiten Brust verschränkt. Thrall sprach nicht, fragte sich nur, welche neuen Leiden ihm jetzt bevorstanden.
»Ich habe dich von ihnen befreit«, sagte Sergeant ruhig. »Aber nicht bevor sie ihren Spaß hatten. Blackmoore wollte mit mir über … Geschäfte reden. Das tut mir Leid, Junge, wirklich Leid. Du warst heute unglaublich im Ring. Blackmoore sollte stolz auf dich sein. Stattdessen …« Seine raue Stimme brach ab. »Na ja, ich wollte, dass du weißt, dass du nicht verdient hast, was er dir angetan hat. Was sie dir angetan haben. Du warst gut, Junge, wirklich gut. Und jetzt schlaf etwas.«
Er schien noch mehr sagen zu wollen, nickte dann jedoch nur und ging. Thrall lehnte sich zurück und bemerkte gedankenverloren, dass jemand das Stroh gewechselt hatte. Es war nicht mehr voll mit seinem Blut.
Er war dankbar für das, was Sergeant getan hatte und glaubte dem Mann. Doch es war zu wenig und kam zu spät.
Er würde sich nicht mehr so behandeln lassen. Früher hätte er den Kopf eingezogen und geschworen, künftig alles besser zu machen, damit er die Liebe und den Respekt erhielt, den er verzweifelt suchte. Jetzt wusste er, dass er beides hier nicht finden würde, nicht so lange er Blackmoore gehörte.
Er wollte nicht schlafen. Er wollte diese Zeit zum Planen nutzen. Er griff nach der Tafel und dem Griffel, die er im Sack aufbewahrte, und schrieb eine Notiz an die einzige Person, der er vertrauen konnte. Tari.
In den nächsten dunklen Monden werde ich entkommen.
Durch das Gitter über seinem Kopf konnte Thrall das Mondlicht sehen. Er achtete sorgsam darauf, weder den Rekruten, die ihn getreten hatten, noch Sergeant und vor allem nicht Blackmoore – der ihn behandelte, als sei nichts geschehen – irgendeinen Hinweis über seine tiefe Erkenntnis zu geben. Er war so unterwürfig wie immer und bemerkte zum ersten Mal, dass er sich für dieses Benehmen hasste. Er hielt den Blick gesenkt, obwohl er wusste, dass er jedem Menschen mindestens ebenbürtig war. Er trug gehorsam seine Ketten, obwohl er die vier Wärter in blutige Fetzen hätte reißen können, wenn sie versucht hätten, ihn gegen seinen Willen zu überwältigen. Er änderte sein Verhalten in keiner Weise, weder in der Zelle noch draußen, weder im Ring noch auf dem Trainingsplatz.
In den ersten beiden Tagen bemerkte Thrall, dass Sergeant ihn scharf beobachtete, als versuchte er die Veränderungen zu erkennen, die Thrall so angestrengt verbarg. Er sprach jedoch nicht mit Thrall, und Thrall achtete weiter darauf, keinen Verdacht zu erregen. Sie sollten glauben, dass sie ihn gebrochen hatten. Er bedauerte nur, dass er Blackmoores Gesichtsausdruck nicht sehen würde, wenn er entdeckte, dass sein »Haus-Ork« ausgeflogen war.
Zum ersten Mal in seinem Leben gab es etwas, auf das Thrall sich freuen konnte. Das erweckte einen Hunger in ihm, den er vorher nicht gekannt hatte. Er hatte sich immer so stark darauf konzentriert, den Prügeln zu entgehen und Lob einzuheimsen, dass er nie darüber nachdachte, was Freiheit wirklich bedeutete. Ohne Ketten durch das Sonnenlicht zu streifen, unter Sternen zu schlafen … In seinem ganzen Leben war er noch nie nachts draußen gewesen. Wie würde das wohl sein?
Seine Phantasie, durch Bücher und Taris Briefe gestärkt, konnte jetzt endlich abheben. Er lag schlaflos auf seinem Strohbett und fragte sich, wie es wohl sein würde, jemanden aus seinem eigenen Volk zu treffen. Er hatte natürlich all die Berichte gelesen, die Menschen über die »schrecklichen grünen Ungeheuer aus den tiefsten Dämonenhöhlen« sammelten. Und er erinnerte sich an den verstörenden Zwischenfall, als der gefangene Ork sich befreit und Thrall angegriffen hatte. Wenn er nur verstanden hätte, was der Ork ihm zugerufen hatte. Sein Orkisch hatte nicht dafür gereicht – bei weitem nicht.
Eines Tages würde er herausfinden, was der Ork ihm hatte sagen wollen. Und er würde sein Volk finden. Thrall war unter Menschen aufgewachsen, aber diese hatten nur selten versucht, seine Loyalität und Zuneigung zu gewinnen. Er war Sergeant und Tari dankbar, dass sie ihm Konzepte wie Ehre und Freundlichkeit vermittelt hatten. Durch ihre Lehren hatte Thrall gelernt, Blackmoore besser zu verstehen und erkannt, dass der Leutnant keine dieser Charakterzüge besaß. Und so lange Thrall ihm gehörte, würde er auch in seinem eigenen Ork-Leben dergleichen nie erfahren.
Die Monde, einer groß und silbern, der andere klein und blaugrün, waren in dieser Nacht dunkel. Tari hatte auf seine Ankündigung mit einem Hilfsangebot reagiert, so wie er es tief in seinem Herzen erwartet hatte. Gemeinsam hatten sie einen Plan erdacht, der höchstwahrscheinlich funktionieren würde. Thrall wusste jedoch nicht, wann der Plan beginnen sollte, und so hoffte er auf ein Signal. Und wartete.
Er war in einen unruhigen Schlaf gefallen, als ihn das Läuten einer Glocke wieder aufweckte. Augenblicklich sprang er hoch und begab sich zur Rückwand seiner Zelle. Über die Jahre hatte Thrall mühsam einen einzigen Stein freigelegt und die Erde dahinter ausgehöhlt. Hier bewahrte er die Dinge auf, die ihm am wichtigsten waren: Taris Briefe. Jetzt zog er den Stein heraus, nahm die Briefe und wickelte sie in den einzigen anderen Gegenstand ein, der ihm etwas bedeutete: das Tuch mit dem weißen Wolf auf blauem Feld. Für einen kurzen Augenblick drückte er das so entstandene Bündel gegen seine Brust. Dann drehte er sich um und wartete auf seine Chance.
Die Glocke schlug weiter, und jetzt waren auch Rufe und Schreie zu vernehmen. Thralls Nase, die viel empfindlicher als die eines Menschen war, witterte Rauch. Mit jedem Herzschlag wurde der Geruch stärker, und dann konnte der Ork sogar den rötlichen und gelben Widerschein in der Dunkelheit seiner Zelle sehen.
»Feuer!«, hörte er die Rufe. »Feuer!«
Ohne zu wissen, warum, warf sich Thrall auf sein Bett aus Stroh. Er schloss die Augen, zwang seinen fliehenden Atem zur Ruhe und täuschte vor zu schlafen.
»Der geht nirgendwo hin«, sagte eine der Wachen. Thrall wusste, dass er beobachtet wurde. Er täuschte weiter tiefen Schlaf vor. »Das verdammte Monster wird auch von gar nichts wach. Komm, wir helfen den anderen.«
»Ich weiß nicht«, sagte die zweite Wache.
In die Alarmrufe mischten sich jetzt helle Kinderschreie und hohe Frauenstimmen.
»Es breitet sich aus«, sagte die erste Wache. »Komm schon!«
Thrall hörte, wie schwere Stiefelsohlen auf Stein aufschlugen. Das Geräusch wurde schwächer. Er war allein.
Er erhob sich und stellte sich vor die schwere Holztür. Natürlich war sie verschlossen, aber es gab niemanden, der sehen konnte, was Thrall als nächstes tun würde.
Er atmete tief ein und warf sich mit der linken Schulter voran gegen das Hindernis. Die Tür gab leicht nach, sprang jedoch nicht auf. Wieder und wieder warf er sich wuchtig dagegen. Fünf Mal musste er seinen mächtigen Körper gegen das Holz rammen, bevor die alte Tür mit lautem Krachen aufflog. Der Schwung trug Thrall nach vorne, und er landete auf dem harten Boden. Der Moment des Schmerzes war jedoch nichts gegen die Erregung, die ihn durchströmte.
Er kannte diese Gänge und konnte im durch die wenigen Fackeln an den Wänden entstehenden Halbdunkel problemlos sehen. Einen Gang hinunter, eine Treppe hinauf, und dann …
Wie schon zuvor in der Zelle erwachte plötzlich sein tiefverwurzelter Instinkt. Er presste sich gegen die Wand und verbarg seinen klobigen Körper so gut es ging in den Schatten. Aus einem anderen Eingang kamen Wachen und stürmten an ihm vorbei. Sie sahen ihn nicht, worauf Thrall erleichtert aufatmete.
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