Sie drehte sich um und konnte mit Befriedigung beobachten, wie ein Ausdruck der Unsicherheit über seine Züge huschte. Er ballte die Fäuste, dann nickte er langsam.
»Also gut«, sagte er und stand auf. »Ich werde dich zu ihm bringen.«
Ein Gefühl des Triumphs stieg in Sonea auf, das jedoch alsbald wieder verblasste. Fergun wäre nicht auf ihre Bedingung eingegangen, wenn er Cery nicht tatsächlich in seiner Gewalt hätte. Außerdem wusste sie um die größte Gefahr in einer solchen Situation: Man musste den Entführer daran hindern, sein Opfer zu töten, sobald er bekommen hatte, was er wollte.
Fergun trat zur Tür, öffnete sie und ließ Sonea vorangehen. Im Korridor kamen ihnen zwei Magier entgegen, die bei Soneas Anblick erschrocken stehen blieben, sich dann aber entspannten, als Fergun neben ihr erschien.
»Hat Rothen dir von den verschiedenen Gebäuden der Gilde erzählt?«, fragte Fergun aufgeräumt, als sie auf die Treppe zugingen.
»Ja«, antwortete sie.
»Sie wurden vor über vierhundert Jahren erbaut«, fuhr er fort. »Die Gilde ist viel zu groß geworden…«
Endlich Wochenende!, dachte Dannyl jubilierend, als er aus dem Klassenzimmer trat. Mehrere Novizen hatten den ganzen Tag über die Möglichkeit geredet, dass Sonea der Gilde beitreten könnte. Als zwei von ihnen die übrigen allzu sehr abgelenkt hatten, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sie zur Strafe dazubehalten.
Seufzend klemmte er sich Bücher, Papiere und Schreibutensilien unter den Arm und ging den Korridor hinunter. Als er die Treppe erreichte, erstarrte er, außerstande zu glauben, was er in der Halle unter sich sah.
Fergun und Sonea waren soeben eingetreten. Der Krieger sah sich in der Halle um und warf dann einen Blick auf die Treppe gegenüber von Dannyl. Dieser horchte auf die Schritte der beiden unter ihm, die langsam verklangen.
So geräuschlos wie möglich ging Dannyl die Treppe hinunter. Er durchquerte die Halle bis zu der Abzweigung, in der Fergun und Sonea verschwunden waren, und spähte um die Ecke. Fergun und Sonea waren mehrere Schritte von ihm entfernt, und sie hatten es offensichtlich eilig. Kurz darauf bogen sie in einen Seiteneingang ein.
Dannyl, dessen Herz jetzt schneller schlug, folgte ihnen und verlangsamte seinen Schritt, als ihm klar wurde, dass dies derselbe Korridor war, in dem er Fergun vor einigen Tagen so hastig hatte verschwinden sehen. Er riskierte einen schnellen Blick.
Der Korridor war leer, und während Dannyl weiterging, spitzte er die Ohren. Mit Mühe konnte er in einiger Entfernung Ferguns Stimme wahrnehmen. Er folgte der Stimme durch einige weitere Korridore, bis plötzlich nichts mehr zu hören war.
Die Stille jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Hatte Fergun bemerkt, dass er verfolgt wurde? Lauerte er ihm irgendwo auf?
Als er eine Biegung des Korridors erreichte, fluchte Dannyl lautlos. Ohne Ferguns Stimme als Orientierung hatte er keine Ahnung, ob er nicht vielleicht im nächsten Moment über den Magier stolpern würde. Er blickte vorsichtig um die Ecke und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Korridor vor ihm war leer.
Er bewegte sich vorsichtig weiter, hielt jedoch kurz darauf inne. Er war in eine Sackgasse geraten. Genau genommen war es natürlich keine echte Sackgasse, da es so etwas in der Universität nicht gab. Eine der Türen musste zu einem Nebengang führen, über den man zurück in den Hauptkorridor gelangte. Aber wenn Fergun in diese Richtung gegangen war, hätte Dannyl hören müssen, wie eine Tür zufiel. Fergun hatte sich keine besondere Mühe gegeben, Geräusche zu vermeiden.
Aber wenn er bemerkt hatte, dass ihm jemand folgte …?
Dannyl drehte den Knauf der Tür, durch die man in den Seitengang gelangte. Die Scharniere knarrten dramatisch, als die Tür sich öffnete, wie um Dannyl zu bestätigen, dass er es hätte hören müssen, falls Fergun durch die gleiche Tür gegangen war. Auf der anderen Seite fand Dannyl jedoch wieder niemanden vor.
Auch der Hauptkorridor war verlassen. Verwirrt kehrte Dannyl zurück und versuchte es mit anderen Türen, aber nirgendwo war ein Zeichen von Sonea oder Fergun zu entdecken.
Kopfschüttelnd verließ er die Universität, während sich die Fragen in seinem Kopf überschlugen. Warum hatte Fergun Sonea aus Rothens Quartier geholt? Warum hatte er sie in die menschenleeren inneren Korridore der Universität geführt? Wie war es möglich, dass die beiden hatten verschwinden können?
— Rothen?
— Dannyl.
— Wo bist du?
— Im Abendsaal.
Dannyl zog die Brauen zusammen. Fergun hatte also gewartet, bis Rothen nicht mehr da war, bevor er an Sonea herantrat. Typisch.
— Bleib, wo du bist. Ich muss mit dir reden.
Cery zog sich die Decke fester um die Schultern und lauschte dem Klappern seiner Zähne. Die Temperatur im Raum war im Laufe der Tage langsam gesunken, und inzwischen war es so kalt, dass die Feuchtigkeit auf den Mauern gefror. Irgendwo über ihm hatte der Winter die Stadt mit seinem Würgegriff umklammert.
Der Magier brachte ihm jetzt mit jeder Mahlzeit eine Kerze, die jedoch nur wenige Stunden hielt. Wenn sich die Dunkelheit von neuem herabsenkte, schlief Cery oder ging im Raum auf und ab, um sein Blut warm zu halten, und er zählte die Schritte, damit er nicht gegen die Wände prallte. Die Wasserflasche drückte er sich an die Brust, um zu verhindern, dass das Wasser gefror.
Ein leises Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, und er blieb jäh stehen, überzeugt davon, noch andere Schritte als seine eigenen gehört zu haben. Nur Stille folgte. Seufzend setzte er sich wieder in Bewegung.
In Gedanken hatte er ungezählte Gespräche mit seinem Entführer geführt. Nach seinem erfolglosen Versuch, den Magier zu töten, hatte Cery viele Stunden lang über seine Situation nachgegrübelt. Es war unmöglich, aus der Zelle auszubrechen, und er stellte nicht die geringste Gefahr für Fergun dar. Sein Schicksal lag ganz in dessen Händen.
Obwohl es ihm einen bitteren Geschmack in den Mund trieb, wusste er, dass seine einzige Chance auf Entkommen darin lag, sich den Magier gewogen zu machen. Was jedoch unmöglich schien – Fergun zeigte keinerlei Neigung, mit ihm zu reden. Und offensichtlich brachte er Cery nur Verachtung entgegen. Um Soneas willen, dachte Cery. Um ihretwillen muss ich es versuchen.
Sonea. Cery schüttelte den Kopf und seufzte. Möglicherweise war sie gezwungen worden, ihm zu sagen, dass sie die Hilfe der Gilde brauchte, um Kontrolle über ihre Kräfte zu gewinnen, aber Cery bezweifelte es. Sie hatte nicht ängstlich oder angespannt gewirkt, nur resigniert. Er hatte selbst mitangesehen, wie ihre Kräfte auf ihre Gefühle reagiert hatten, wie gefährlich sie geworden waren. Es war durchaus möglich, dass ihre Magie sie am Ende getötet hätte.
Was bedeutete, dass er nichts Schlimmeres hätte tun können, als Sonea zu den Dieben zu bringen. Dort hatte sie jeden Tag Magie benutzen müssen und versucht, ihre Kräfte noch zu stärken, wodurch sie womöglich umso schneller die Kontrolle darüber verloren hatte.
Aber irgendwann wäre sie ohnehin zu diesem Punkt gelangt, ganz gleich, was er, Cery, getan hätte. Früher oder später hätte die Gilde sie gefunden, oder sie wäre gestorben.
Cery schnitt in der Dunkelheit eine Grimasse und dachte an den Brief, den die Magier ihr geschickt und in dem sie behauptet hatten, sie wollten Sonea keinen Schaden zufügen. Stattdessen hatten sie ihr einen Platz in der Gilde angeboten. Sonea hatte ihnen nicht geglaubt. Ebenso wenig wie Faren.
Aber Cery hatte einen alten Bekannten unter den Dienern der Gilde. Der Mann wäre vielleicht in der Lage gewesen, den Wahrheitsgehalt dieses Briefes zu bestätigen, aber Cery hatte ihn nicht gefragt.
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