»Macht Euch keine Sorgen, Sonea«, flüsterte Tania, als sie das Universitätsgebäude erreichten. »Es wird schon alles gut gehen. Die Magier sind einfach nur eine Bande alter Männer, die lieber behaglich an ihrem Wein nippen, als in einer zugigen Halle zu sitzen. Bevor Ihr recht wisst, wie Euch geschieht, wird alles vorbei sein.«
Tanias Beschreibung der Gilde entlockte Sonea ein Lächeln. Dann folgte sie der Dienerin über die Treppe und durch die riesigen Türen. Sie hielt den Atem an, als sie in einen Raum voller Treppen gelangten. Jede dieser Treppen bestand aus miteinander verschmolzenem Stein und Glas und wirkte zu zerbrechlich, um das Gewicht eines Menschen zu tragen. Die Treppen zogen sich in gewundenen Spiralen durch den Raum und umschlangen einander wie ein kunstvolles Schmuckstück.
»Der andere Teil der Universität sieht ganz anders aus!«, entfuhr es ihr.
Tania schüttelte den Kopf. »Der Hintereingang ist für die Novizen und Magier gedacht. Aber durch diese Türen kommen die Besucher, deshalb muss es beeindruckend sein.«
Die Dienerin durchquerte die Vorhalle und ging einen kurzen Korridor hinunter. Sonea konnte vor sich die untere Hälfte einer weiteren gewaltigen Doppeltür erkennen. Am Ende des Korridors angelangt, blieb Sonea stehen und sah sich voller Ehrfurcht um.
Sie standen an der Schwelle zu einem großen, hohen Raum. Weiße Wände erstreckten sich bis zu einer Decke aus Glaspaneelen, durch die das strahlende, goldene Licht der Nachmittagssonne fiel. Auf der Höhe des dritten Stockwerks durchzog ein Netz von Balkons den Raum – so zart, dass man den Eindruck gewann, als schwebten sie in der Luft.
Vor ihr ragte ein Gebäude auf. Ein Gebäude innerhalb eines Gebäudes. Die groben, grauen Mauern stellten einen dramatischen Kontrast zu dem hellen Weiß der Halle dar. Über die gesamte Länge des Bauwerks zog sich eine Reihe schmaler Fenster.
»Das ist die Große Halle«, erklärte Tania. »Und das«, sie zeigte auf das Gebäude, »ist die Gildehalle. Sie ist mehr als sieben Jahrhunderte alt.«
»Das ist die Gildehalle?« Sonea schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte, man hätte sie durch ein anderes Gebäude ersetzt.«
»Nein.« Tania lächelte. »Sie war solide gebaut und hat außerdem historischen Wert, deshalb wäre es eine Schande gewesen, sie abzureißen.«
Beeindruckt folgte Sonea der Dienerin. Tania machte sie auf eine Doppeltür an der Seite der Gildehalle aufmerksam. »Dort werdet Ihr hineingehen. Im Augenblick findet die Versammlung der Magier statt. Gleich danach wird die Anhörung beginnen.«
Sonea verspürte einmal mehr ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Hundert Magier saßen in diesem Raum und warteten darauf, über ihr Schicksal zu befinden. Und sie würde vor all diese Menschen hintreten… und sie täuschen.
Übelkeit erregende Angst befiel sie. Was würde geschehen, wenn Fergun nicht als Sieger aus der Anhörung hervorging – obwohl sie getan hatte, was er von ihr verlangte? Würde er Cery dann trotzdem freilassen?
Cery…
Bei der Erinnerung an sein stockendes Geständnis in der dunklen Zelle schüttelte Sonea den Kopf.
Er liebte sie. Die Überraschung hatte sie zuerst sprachlos gemacht, aber wenn sie jetzt zurückdachte, ergaben manche Dinge plötzlich einen Sinn. Wie oft hatte sie ihn dabei ertappt, dass er sie beobachtete; wie oft war er so seltsam scheu geworden, wenn sie miteinander sprachen… Und jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass Faren sich häufig so benommen hatte, als sei Cery mehr als nur ein treuer Freund für sie.
Empfand sie genauso wie er? Seit ihrer Begegnung im Kerker hatte sie sich diese Frage ungezählte Male gestellt, aber sie konnte sie nicht mit Sicherheit beantworten. Sie hatte nicht das Gefühl, verliebt zu sein, andererseits legte sich jedes Mal eisige Furcht um ihr Herz, wenn sie an die Gefahr dachte, in der er schwebte. Bedeutete das vielleicht, dass sie am Ende doch in ihn verliebt war? Oder hätte sie die gleiche Angst um jeden anderen gehabt, der ihr teuer war, ob nun als Freund oder als Geliebter?
Wenn sie ihn liebte, hätte ihr Herz bei seinem Eingeständnis dann nicht jubeln müssen? Wäre sie nicht glücklich darüber gewesen, dass er sie zu retten versucht hatte, statt sich schuldig zu fühlen, weil seine Zuneigung zu ihr zu seiner Gefangenschaft geführt hatte?
Und wenn sie ihn liebte, müsste sie sich doch gewiss nicht all diese Fragen stellen.
Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite und atmete tief durch.
Tania klopfte ihr auf die Schulter. »Wahrscheinlich dauert die Versammlung nicht allzu lange, aber man kann nie wissen…«
Ein lautes Klicken wehte durch die Halle, dann öffneten sich die Türen, auf die Tania Sonea kurz zuvor aufmerksam gemacht hatte. Der erste Magier kam aus dem Gebäude, und weitere folgten ihm. Sonea fragte sich unwillkürlich, warum so viele von ihnen fortgingen. Hatte man die Anhörung abgesagt?
»Wohin gehen sie?«
»Es werden nur diejenigen bleiben, die sich für die Anhörung interessieren«, erklärte Tania.
Während einige der Magier die Große Halle verließen, bildeten andere kleine Gruppen. Einige der Männer und Frauen sahen Sonea mit unverhohlener Neugier an. Sonea wich ihrem Blick aus.
— Sonea?
Sie zuckte zusammen, dann wandte sie sich zu der Gildehalle um.
— Rothen?
— Es war eine kurze Versammlung. Man wird dich bald hereinrufen.
Sonea schaute zu den Türen der Gildehalle hinüber und sah eine dunkle Gestalt hindurchtreten. Als sie den Mann erkannte, stockte ihr der Atem.
Der Assassine!
Sie war davon überzeugt, dass dies der Mann war, den sie in jener Nacht während ihres Erkundungszugs in der Gilde gesehen hatte. Sein Gesicht hatte denselben grimmigen, grüblerischen Ausdruck, den sie in Erinnerung hatte. Während er mit langen Schritten den Raum durchmaß, schlugen ihm seine schwarzen Roben um die Beine.
Einige Magier drehten sich um und nickten ihm zu, und sie begegneten ihm mit dem gleichen wachsamen Respekt, den sie bei Faren erlebt hatte, wenn er mit einem Auftragsmörder der Diebe sprach. Der Mann grüßte mit einem knappen Nicken in die Runde, blieb jedoch nicht stehen. Obwohl Sonea wusste, dass sie seine Aufmerksamkeit auf sich lenken würde, wenn sie ihn weiter anstarrte, konnte sie sich einfach nicht abwenden. Für einen kurzen Moment begegnete sein Blick dem ihren, dann ging er weiter.
Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie fuhr herum.
»Das da drüben ist Lord Osen.« Tania zeigte zu den Türen der Gildehalle hinüber. »Der Assistent des Administrators.«
Ein junger Magier stand dort und beobachtete sie. Als er ihren Blick auffing, winkte er sie zu sich heran.
»Geht nur«, flüsterte Tania und klopfte Sonea abermals auf die Schulter. »Ihr werdet schon zurechtkommen.«
Sonea drückte die Schultern durch und zwang sich, die Halle zu durchqueren. Als sie den jungen Magier erreicht hatte, neigte dieser höflich den Kopf.
»Sei mir gegrüßt, Sonea«, sagte er. »Willkommen in der Gildehalle.«
»Ich danke Euch, Lord Osen.« Hastig vollführte sie eine unbeholfene Verbeugung. Osen bedeutete ihr lächelnd, ihm in die Gildehalle zu folgen.
Der Geruch von Holz und Bohnerwachs schlug ihr aus dem Raum entgegen. Die Halle wirkte größer, als es von außen den Anschein hatte, und die Wände ragten zu einer dunklen Decke hoch über ihnen auf. Unter den Dachsparren schwebten mehrere Magierkugeln und tauchten den Raum in einen goldenen Schein.
Zu beiden Seiten des Gebäudes erstreckten sich mehrere Reihen stufenförmig übereinander angeordneter Holzstühle. Als Sonea sah, dass die in Roben gewandeten Männer und Frauen sie beobachteten, wurde ihr Mund plötzlich trocken. Sie schluckte und wandte den Blick ab.
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