Osen blieb stehen, bedeutete ihr, dass sie zurückbleiben solle, und stieg dann zu den treppenförmig angeordneten Sitzen zu ihrer Rechten empor. Dort saßen, wie sie wusste, die Höheren Magier. Rothen hatte ein Schaubild der Sitzverteilung in der Halle für sie gezeichnet, damit sie sich die Namen und Titel der Magier hatte einprägen können.
Die oberste Reihe war leer, wie sie feststellte. Rothen hatte ihr versichert, dass der König höchst selten an den Zeremonien der Gilde teilnahm. Sein Stuhl in der Mitte der Reihe war größer als die anderen, und auf der gepolsterten Rückenlehne war das königliche Wappen eingestickt.
Darunter stand ein einzelner Stuhl. Sonea verspürte eine vage Enttäuschung, als sie sah, dass er leer war. Sie hatte gehofft, einen Blick auf den Hohen Lord werfen zu können.
Im Zentrum der mittleren Reihe saß Administrator Lorlen. Die beiden Stühle links und rechts von ihm waren ebenfalls verwaist. Er unterhielt sich mit Osen und einem pferdegesichtigen Mann in der Reihe unter ihm, der eine schwarze Schärpe über seinen roten Roben trug. Dies musste also Lord Balkan sein, das Oberhaupt der Krieger.
Links von Balkan saß die strenge Lady Vinara, das Oberhaupt der Heiler, die Rothen nach seiner Ankündigung, dass Sonea bleiben würde, aufgesucht hatte. Zu seiner Rechten entdeckte Sonea einen alten Mann mit einem kantigen Gesicht und einer großen Nase – Lord Sarrin, das Oberhaupt der Alchemisten. Beide beobachteten Lorlen mit großer Aufmerksamkeit.
In der untersten Reihe saßen die Prinzipale – die Magier, die den Unterricht an der Universität organisierten. Von den drei Plätzen waren aber nur zwei besetzt. Angestrengt dachte Sonea über eine Erklärung dafür nach, bis ihr Blick erneut auf Lord Balkan fiel. Dann erinnerte sie sich wieder. Er bekleidete beide Positionen, sowohl die des Oberhaupts als auch die des Prinzipals seiner Disziplin.
Osen straffte sich und kam wieder nach unten. Die Höheren Magier wandten sich der Halle zu. Administrator Lorlen stand auf, reckte das Kinn und ließ den Blick durch den Raum gleiten.
»Hiermit erkläre ich die Anhörung, die darüber befinden soll, welcher der beiden Bewerber zu Soneas Mentor bestimmt wird, für eröffnet«, sagte er mit volltönender Stimme. »Würden Lord Rothen und Lord Fergun jetzt bitte vortreten?«
Als Sonea das Scharren von Stiefeln auf dem Boden hörte, blickte sie zu den Magiern auf. Eine vertraute Gestalt kam die Treppe herunter. Rothen blieb einige Schritte von Osen entfernt stehen und lächelte Sonea zu.
Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie sich ihrer Zuneigung zu dem älteren Magier bewusst und wollte gerade sein Lächeln erwidern, als ihr wieder einfiel, was sie in den nächsten Minuten tun musste, und hastig senkte sie den Blick. Rothen würde so enttäuscht von ihr sein…
Abermals wurden Schritte laut. Fergun war ebenfalls vorgetreten. Auch er bedachte sie mit einem Lächeln. Sie unterdrückte ein Schaudern und sah stattdessen zu dem Administrator hinauf.
»Sowohl Lord Rothen als auch Lord Fergun haben den Antrag gestellt, zu Soneas Mentor ernannt zu werden«, erklärte Lorlen dem Publikum. »Beide glauben, sie seien die ersten Magier gewesen, die ihr Potenzial erkannt haben. Wir müssen jetzt darüber befinden, welchem der beiden Männer wir Recht geben wollen. Die weitere Leitung der Anhörung möchte ich meinem Assistenten, Lord Osen, überlassen.«
Der junge Mann, der sie in den Raum begleitet hatte, trat vor. Sonea holte tief Luft, starrte zu Boden und versuchte, sich für das Kommende zu wappnen.
»Lord Rothen.«
Rothen wandte sich zu Lord Osen um.
»Würdet Ihr uns bitte von den Ereignissen berichten, die dazu geführt haben, dass Ihr Sonea als potenzielle Magierin erkannt habt?«
Rothen nickte und räusperte sich. »An dem Tag, an dem ich Soneas Kräfte erkannte – dem Tag der Säuberung –, war ich zusammen mit Lord Fergun zum Dienst eingeteilt. Wir waren auf dem Nordplatz angekommen und ließen unsere Kräfte in den Schutzschild einfließen. Wie immer fingen einige junge Leute an, mit Steinen zu werfen. Ich stand Lord Fergun gegenüber. Der Schild war ungefähr drei Schritte von uns entfernt, zu meiner Linken. Am Rand meines Gesichtsfelds sah ich in der Nähe des Schildes einen Lichtblitz, und im gleichen Moment geriet der Schild ins Wanken. Ich sah einen Stein durch die Luft fliegen, unmittelbar bevor er Lord Fergun an der Schläfe traf und ihn bewusstlos schlug.«
Rothen hielt inne und blickte zu Fergun hinüber. »Ich habe Lord Fergun aufgefangen, und als ich ihn auf den Boden gelegt hatte, habe ich Ausschau nach der Person gehalten, die den Stein geworfen hatte. Das war der Moment, in dem ich Sonea sah.«
Osen machte einen Schritt auf Rothen zu. »Das war also das erste Mal, dass Ihr Sonea gesehen habt?«
»Ja.«
Osen verschränkte die Arme vor der Brust. »Habt Ihr zu irgendeiner Zeit beobachten können, wie Sonea Magie wirkte?«
Rothen zögerte. »Nein, das habe ich nicht«, gestand er widerstrebend. Ein Raunen lief durch die Reihen der Magier zu seiner Rechten, aber als Lord Osen in diese Richtung blickte, kehrte sofort wieder Stille ein.
»Woher wusstet Ihr, dass sie es war, die den Stein geworfen hatte?«
»Ich habe die Richtung abgeschätzt, aus der der Stein gekommen war, und bin zu dem Schluss gekommen, dass nur zwei junge Leute als Werfer in Frage kamen«, erklärte Rothen. »Einer davon war ein Junge, aber er interessierte sich gar nicht für das Geschehen. Sonea dagegen starrte voller Überraschung auf ihre Hände. Dann sah sie mich an, und ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie den Stein geworfen hatte.«
»Und Ihr haltet es für ausgeschlossen, dass Lord Fergun Sonea vor Euch entdeckt haben könnte?«
»Allerdings. Lord Fergun kann Sonea an diesem Tag überhaupt nicht gesehen haben«, erwiderte Rothen trocken, »und zwar aufgrund der unglücklichen Natur seiner Verletzung.«
Einige Magier kicherten verstohlen, andere hüstelten. Lord Osen nickte, dann wandte er sich ab und trat vor Fergun hin.
»Lord Fergun«, sagte er, »würdet Ihr uns bitte von den Ereignissen des Tages berichten, wie Ihr sie erlebt habt.«
Fergun neigte den Kopf. »Ich habe, wie Rothen es bereits beschrieben hat, an der Aufrechterhaltung des Schilds auf dem Nordplatz mitgewirkt. Eine Gruppe junger Leute begann, uns mit Steinen zu bewerfen. Ich habe festgestellt, dass es etwa zehn Personen waren. Eine davon war ein junges Mädchen.« Fergun blickte zu Sonea hinüber. »Ich fand ihr Benehmen eigenartig, deshalb habe ich sie aus den Augenwinkeln weiterhin beobachtet. Als sie ihren Stein warf, dachte ich mir natürlich nichts dabei, bis ich einen Lichtblitz wahrnahm. In dem Moment wurde mir klar, dass sie etwas getan haben musste, um die Barriere zu durchdringen.« Fergun lächelte. »Das überraschte mich so sehr, dass ich, statt zuerst den Stein abzuwehren, in ihre Richtung sah, um mich davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich diejenige war, die die Störung verursacht hatte.«
»Also habt Ihr Soneas magisches Potenzial bemerkt, nachdem der Stein den Schild durchbrochen hatte, und bevor Ihr getroffen wurdet.«
»Ja«, antwortete Fergun.
Lautes Stimmengewirr hallte daraufhin durch den Raum. Rothen knirschte mit den Zähnen und widerstand dem Drang, Fergun wütend anzustarren. Die Geschichte des Kriegers war eine Lüge. Fergun hatte zu keiner Zeit zu Sonea hinübergesehen. Rothen warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie stand still und mit herabhängenden Schultern in der Dunkelheit. Er hoffte, dass ihr klar war, wie wichtig ihre Darstellung für die Bestätigung seiner Version sein würde.
»Lord Fergun.«
Als diese neue Stimme erklang, senkte sich abermals Schweigen über die Halle. Es war Lady Vinara, die sprach. Die Heilerin sah Fergun mit ihrem berühmten, unbewegten Blick an.
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