»Aber nur Sie können mir … helfen … mir sagen …« Klaw redete nur, um nicht zu schweigen. Er hatte bereits verstanden, wie sinnlos seine Worte waren.
»Pass auf dich auf«, mahnte der Lum. »Das ist alles, was ich dir sagen kann.«
Damit stand er auf, schlagartig gealtert, und ging fort und bot seinen gekrümmten Rücken den Meisen als Landefläche an.
Klawdi wusste, dass kaum Hoffnung auf Schmerzlinderung bestand. Seit seiner Zeit als Inquisitor im Außendienst schlugen Schlaftabletten oder Schmerzmittel bei ihm nicht mehr an. Schmerzen musste er mit Willenskraft überwinden — nur konnte er sich momentan auf Teufel komm raus nicht konzentrieren.
Der Schmerz rührte nicht von der verletzten Hand her. Nein, er saß irgendwo tief in seinem Innern, ein niedergehaltener, immer wieder zusammengestauchter Schmerz. Klaw durfte nicht an ihn denken.
Die Augen der jungen Frau funkelten im Halbdunkel der Diele; die Haare, die über die Schultern fielen, erinnerten an Kupferdraht. Sie verfügte über eine ausgezeichnete Abwehr. Bislang hatte er noch nie eine Hexe getroffen, die derartige Ereignisse so gelassen hinnahm. Gut, vor dem Inquisitionspalast wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Weshalb sie seinen verletzten Arm ja auch so gequetscht hatte. Nebenbei bemerkt: War der eigentlich wirklich verletzt?
Was für ein Verfall der Moral! Eine Hexe, die mit einer Schusswaffe auf einen Inquisitor losgeht. Noch vor zehn Jahren wäre ihnen das barbarisch vorgekommen; aber jetzt schreckten sie vor nichts zurück. Wo die eigenen Kräfte nicht reichten, griffen sie zur Pistole.
Vermutlich trug Ywha keine gute Wäsche. Folglich mussten die Formen, die sich unter dem blutdurchtränkten Pullover abzeichneten, ihre eigenen sein.
Nachdem sie seinen Blick auffing, schaute sie zu Boden. Ihm war ebenfalls unbehaglich zumute. Nicht weil er sie gemustert hatte — er hatte schon gepflegte Frauen gesehen und schlampige, Frauen in Brokatkleidern und in Lumpen und auch so, wie Mutter Natur sie geschaffen hatte.
»Herr Klawdi!«, rief die Haushälterin aus der Küche. »Ich verarbeite den Quark, der wird Ihnen sonst schlecht. Ich mache Ihnen daraus Küchlein. Reicht Ihnen eine Portion? Oder wollen Sie mehr?«
»Zwei«, antworte Klawdi, ohne sich umzudrehen.
Ywha seufzte mehrmals.
Julian ist doch ein Idiot, dachte Klawdi mit überraschender Härte. Ein echter Idiot! Sein Junge wird nie ein Mann werden. Aber natürlich hat das auch seine Vorteile — so ein gehorsamer Sohn.
Welche Zukunft Nasar und Ywha wohl bevorgestanden hätte? Vermutlich eine rosige. Das Mädchen war klug genug — damit sowohl der Vater wie auch der Sohn einem ruhigen und angenehmen Leben mit ihr hätten entgegensehen dürfen. Woher kam diese überbordende Liebe? Nasar schien sie nicht zu lieben, sondern lediglich von ihrer exotischen Erscheinung fasziniert zu sein. Ywha dagegen war ihm ein Rätsel. Sie mochte den Dummkopf offenbar wirklich gern, sogar so sehr, dass sie bereit war, seinetwegen einiges zu ertragen.
Hätte sich Nasar doch nur einmal vor Augen gehalten, was genau seine ehemalige Freundin zu erleiden hatte! Vielleicht wäre er dann ja nebenbei sogar erwachsen geworden!
»In Ihrer Position sollten Sie lieber eine gepflegtere Freundin haben. Oder nicht?«
»In meiner Position …« Beinahe hätte er gegrinst. »… sollte ich nur die Freundinnen haben, die ich haben möchte. Darin liegt der Vorteil, wenn man weit oben auf der Karriereleiter steht.«
»Wenn das so ist!« Das Mädchen reckte das Kinn vor. »Dann weiß ich, warum ich in Ihrem Riesenbett nicht schlafen konnte. Da treiben sich noch die Gespenster Ihrer abgelegten Schönheiten rum!«
Nach dem Essen bemerkte sie, dass die Courage, die ihr Kraft gegeben hatte, verschwunden war.
Dort, am Straßenrand, hatte weißer Löwenzahn gestanden. Die Frau, die unbedingt in dem brennenden Gebäude hatte bleiben wollen, hieß Helena Torka. »Wenn sich eine Hexe nicht der Initiation unterzieht, hebt sie sich kaum von anderen ab, wohingegen eine initiierte Hexe kaum noch als Mensch betrachtet werden kann. Niemand wird sie je verstehen. So wie ein Fisch, der in der Tiefe lebt, die Gesetze des Feuers nicht begreifen kann.«
»Hast du mich verstanden, Ywha?«
Sie presste die Lippen aufeinander. Diese Helena Torka tat ihr unendlich leid. Und noch jemand. Das Mitleid ließ sich kaum ertragen.
»Du schaffst das, Ywha. Mich bedrückt das auch.«
»Hat sie … sich umgebracht?«
Eine Pause.
»Sie hatte einfach nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Ihr Theater, ihre Schülerinnen …«
»Warum?!«
»Es sind Hexen, Ywha. Niemand versteht, warum glückliche und zufriedene Mädchen, die ihr Leben vollständig der Kunst widmen … warum geliebte und liebende Mädchen mit einem Mal gegen alles rebellieren, was ihnen bislang heilig gewesen ist. Sie ermorden ihre Lehrerin, brennen die Oper nieder … Das Haus ist vollständig ausgebrannt, Ywha. Während es wieder aufgebaut wird …«
»Aber die Torka war doch auch …«
»… eine Hexe. Ja. Ich kann dir nicht erklären, warum die Torka ihr ganzes Leben … warum die Torka es vorgezogen hat zu sterben, statt zu einer aktiven Hexe zu werden. Natürlich würde ich das gern verstehen … aber ich kann es nicht, Ywha.«
»›So wie ein Fisch, der in der Tiefe lebt, die Gesetze des Feuers nicht begreifen kann.‹«
»Ja. Bist du gut in der Schule gewesen? Bei deinem Gedächtnis?«
»Nein … Ich habe kaum die siebte Klasse geschafft. Mir ist schlecht.«
»Ich weiß. Das geht aber vorbei.«
»Bringen Sie mich nicht … dahin. Allein habe ich Angst.«
»Fürchtest du dich vor den Heerscharen von Gespenstern? Meinen Freundinnen?«
Ywha rang sich ein Lächeln ab.
Ob er verstehen würde, was genau ihr Angst einflößte? Dass es nicht nur um die diffusen Ängste einer nervlich angeschlagenen jungen Frau ging? Sondern dass sie sich vor sich selbst fürchtete? Vor derjenigen, die sich heute in den unergründlichen, absolut unmenschlichen Augen der angreifenden Hexen gespiegelt hatte … »Niemand wird sie je verstehen.«
Der Fernseher erlosch. Ywha saß beinahe liegend im Sessel, den Kopf gegen die weiche, hohe Lehne gebettet. Sie glaubte, in einem Autobus zu sitzen. Sie fuhren durch einen morgendlichen Wald, wobei die Stämme halb im Nebel verschwanden. Hinter jedem Baum lugte, sich im Nebel auflösend, eine weibliche Figur hervor …
Ywha ächzte.
Jetzt sah sie vor sich eine hohe Steinmauer — und einen bodenlosen Abgrund. Am gezackten Rand dieses Abgrunds schlurften Menschen entlang, schlichen, ohne einander wahrzunehmen. Irgendwann brachen sie aus, stürmten vom Abgrund weg oder stürzten sich in die Tiefe, weil sie den tristen Weg nicht länger ertrugen.
Doch niemand erreichte den Boden. Und von dort unten, aus der Tiefe, blickten sie die wissenden, durch nichts zu überraschenden und zugleich unendlich bösen Augen des Mädchens mit den heißen Sandwiches an.
Die tote Helena Torka lag da, ihre Hände baumelten über den steinernen Rand.
Zitternd schlug Ywha die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel. Der Fernseher blinkte mit der roten Stand-by-Lampe, die Bäume, von den Straßenlaternen beleuchtet, warfen Schatten auf die Gardinen.
»Bild dir nicht ein, dass du eine Wahl hast, du Idiotin. Es wird nur schlimmer, wenn man dich unschuldig verbrennt.«
Wer hatte das gesagt?!
Ein anständiger Mensch hätte noch heute den Hut genommen.
Er jedoch saß da, starrte in die Tasse mit dem kalt gewordenen Tee und quälte mit seiner gesunden Hand eine ohnehin zerquetschte Zigarette. Er versuchte die letzten Worte Helena Torkas zu vergessen: »Danke, Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
Und wenn er nicht gut gewesen wäre? Wenn er nämlich nicht so verdammt gut gewesen wäre, dann wäre Helena noch am Leben! Und das Theater wäre eventuell auch nicht niedergebrannt. Hätte sich einer seiner Untergebenen einen solchen Patzer erlaubt, hätte Klawdi ihn mit größtem Vergnügen an die Wand geklatscht. Umgekehrt würden seine Untergebenen jetzt schweigend abwarten. Morgen früh würde der Herzog anrufen und ihm mit Trauerstimme zum Ende der Opernsaison gratulieren, während er, Klawdi, ihm kühl mitteilen konnte, er werde sämtliche Befugnisse niederlegen und den Dienst quittieren.
Читать дальше