Die Mithral-Mine war interessant anzusehen, doch sie war nicht der einzige Grund, weshalb er hier war. Das Lustrum befand sich zwischen der Armee aus Gracklstugh und der Armee Kaanyr Vhoks. Die Duergar hielten sich auf der linken Seite und näherten sich Menzoberranzan aus Südwesten, während die Tanarukks den Weg zur Rechten zurücklegten und von Südosten auf die Stadt zumarschierten. Die Drow-Armee zog sich zurück, auf dem Weg in die trügerische Sicherheit ihrer Heimatstadt. Menzoberranzans Mantel – der große Kranz aus verschlungenen Höhlen und Passagen, der sich um die ganze Stadt zog – bot der einfallenden Armee tausend Wege, um sich der Stadt zu nähern.
Natürlich hatten die Muttermatronen ihre entlegeneren Ländereien nicht ungeschützt gelassen. Nimor sah zu Boden auf die grünen Scherben einer der berüchtigten Jadespinnen der Stadt, riesige, magisch angetriebene Automaten aus Stein, die die Randbereiche der Stadt bewachten. Aus den Überresten dieses Objekts zu seinen Füßen stieg noch der beißende schwarze Rauch der Brandbomben auf, mit denen es vor wenigen Stunden zerstört worden war. Es handelte sich um raffinierte, todbringende Werkzeuge, doch ohne Heerscharen von Priesterinnen, die sie mit allen möglichen Zaubern unterstützten, waren die Jadespinnen kein ausreichendes Mittel, um die beiden vorrückenden Armeen aufzuhalten.
Wie lange noch, bis die großen Burgen von Menzoberranzan genauso am Boden liegen wie dieses Ding? überlegte Nimor.
Die Gesalbte Klinge wurde in ihren Gedankengängen unterbrochen, als das Stampfen von Zwergenstiefeln und das häßliche Kratzen von Eisen auf Stein ertönte. Die gepanzerte Kutsche Kronprinz Horgar Stahlschattens näherte sich, eskortiert von einer doppelten Kolonne von Steinwachen des Duergar-Fürsten. Nimor zuckte zusammen, als er das dröhnende Gellen der Duergar-Soldaten hörte.
Man sollte meinen, sie hätten in ihrer eigenen Stadt schon genug Lärm und Hammerschläge, dachte er.
Er klopfte Schmutz von seinem Waffenrock, dann begab er sich nach unten, um mit seinen Verbündeten zusammenzutreffen.
»Seid gegrüßt. Ich freue mich, daß Ihr meiner Bitte um ein Gespräch nachgekommen seid.«
Der Duergar-Fürst stieß die gepanzerte Tür an der Seite seines eisernen Wagens auf und trat hinaus auf den Höhlenboden. Marschall Borwald folgte mit einem Schritt Abstand, ein großer Eisenhelm verbarg die Narben in seinem Gesicht.
»Ich habe Euch gesucht, Nimor Imphraezl«, erwiderte Horgar. »Ihr seid einfach verschwunden, nachdem Ihr unsere Vorhut in dieses Labyrinth aus Tunneln geführt hattet. Was hattet Ihr anderswo zu tun, das wichtiger sein könnte als unser Angriff auf Menzoberranzan? Das würde mich interessieren.«
Der Sieg hatte den sauertöpfischen Pessimismus des Kronprinzen in einen unbändigen Hunger nach weiteren Triumphen verwandelt, und Horgars Gutsherren spiegelten die Einstellung ihres Herrschers wider. Wo zuvor der Anblick des Assassinen dazu geführt hatte, daß man finstere Miene machte und sich Übles zuflüsterte, waren die Gutsherren von Gracklstugh nun an einem Punkt angelangt, da sie seine Anwesenheit mit schroffem Kopfnicken und unverhohlenem Neid auf seine Erfolge quittierten.
»Aber wieso? Mein kurzer Ausflug betraf ausschließlich den bevorstehenden Angriff«, gab Nimor mit einem Lachen zurück. Er trat gegen eine Jadescherbe des vernichteten Konstrukts. »Nachdem ich Euren Männern gezeigt hatte, wie man diese Dinge unschädlich macht, war ich der Ansicht, Eure Armee habe die Sache bestens im Griff. Daher nahm ich mir die Freiheit, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten und mich zugleich etwas umzutun, wie es in der Stadt aussieht.«
Der Duergar-Prinz runzelte die Stirn und zog nachdenklich die Brauen zusammen.
»Ihr nahmt Euch die Freiheit, mit der Tanarukk-Armee ein großes Wagnis einzugehen«, sagte Horgar. »Sie hätte sich ebensogut gegen uns wie gegen die Menzoberranzanyr wenden können, und das wißt Ihr!«
»Unter normalen Umständen vielleicht, doch man kann die Chance förmlich riechen, die in der Luft hängt. Ich kann sie riechen, Kaanyr kann sie riechen, und ich glaube, daß Ihr sie auch riechen könnt. Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem viele große Ereignisse in eine andere Richtung gelenkt werden könnten.«
»Leere Platitüden, weiter nichts, Nimor«, brummte der Duergar.
Er verschränkte seine dicken Arme und starrte ins Nichts, während er wartete. Nach kurzer Zeit drang ein Scharren und Schnauben durch die Finsternis, gefolgt von schnellen, schweren Schritten.
Eine Schar Tanarukks kam in die Höhle, die auf ihren haarigen Schultern eine eiserne Sänfte von der Größe einer kleinen Kutsche trugen. Die Augen der Bestien glühten rot vor Haß, in den kraftvollen Fäusten hielten sie Äxte und Streitkolben. Die Duergar und die Ork-Dämonen warfen sich finstere Blicke zu, murmelten Unverständliches und tasteten nervös nach ihren Waffen.
Die Tür der Sänfte öffnete sich knarrend, und Kaanyr Vhok erhob sich langsam aus dem Sessel. Der halbdämonische Kriegsherr sah in seiner karmesinroten und goldenen Rüstung prachtvoll aus, und seine feingeschuppte Haut und die markanten Züge verrieten auf eine Weise Charisma, mit der Horgars ungehobelte und mißtrauische Duergar-Art nie hätte mithalten können. Das Alu-Scheusal Aliisza folgte ihm und streckte ihre Flügel, als sie heraustrat. Als letzter verließ Zammzt die Kutsche des Kriegsherrn.
»Ich bin gekommen«, sagte Kaanyr mit seiner kraftvollen Stimme. Er betrachtete die versammelten Duergar und sah auch zu Nimor. »Wir haben die Drow völlig aufgelöst in ihre Stadt zurückgetrieben. Wie setzen wir nun dem Ganzen ein Ende – und viel wichtiger: Wie teilen wir die Beute?«
»Die Beute teilen?« gab Horgar zurück. »Wohl kaum. Ihr werdet Euch nicht an meinem Lohn gütlich tun, nachdem meine Armee Schwerstarbeit geleistet hat, um die Drow bei den Säulen des Leids zu schlagen. Ihr werdet für Eure Unterstützung angemessen bezahlt werden, aber glaubt ja nicht, Ihr könntet einen Teil meines Sieges für Euch beanspruchen.«
Kaanyr zog wütend die Brauen zusammen.
»Ich bin kein Bettler, der an Eure Großzügigkeit appelliert«, sagte der Cambion. »Ohne meine Armee würdet Ihr Euch noch immer Schritt für Schritt nach Menzoberranzan vorkämpfen.«
Horgar wollte wütend etwas erwidern, doch Nimor stellte sich rasch zwischen den Halbdämon und den Duergar und hob die Arme.
»Meine Herren!« rief er. »Menzoberranzan kann Euch nur schlagen, wenn Ihr Euch gegeneinander wendet. Wenn Ihr zusammenarbeitet, wenn Ihr geschickt Eure Ressourcen bündelt, wird die Stadt fallen.«
»Das stimmt«, sagt Zammzt. Der Assassine mit dem platten, ausdruckslosen Gesicht stand in seinen dunklen Mantel gehüllt neben Vhoks Sänfte. »Es bringt wenig, über die Verteilung der Beute zu reden, solange die Stadt noch nicht eingenommen ist. Es ist noch sinnloser, mit der Diskussionen über die Verteilung der Beute zu verhindern, daß die Stadt überhaupt erst fallen kann.«
»Das mag sein«, gab Kaanyr zurück und verschränkte seine muskulösen Arme vor der breiten Brust. »Aber ich werde mich nicht übergehen lassen, wenn die Stadt geplündert wird. Ihr habt mich hergeholt.«
»Mich auch«, polterte Horgar, »und auch die Agrach Dyrr. Ich vermute, Euer geheimes Haus wird sehr unter Druck geraten, wenn es alle Versprechungen einlösen soll, die Ihr Euren Verbündeten gemacht habt. Ich frage mich, wen von uns Ihr verraten wollt.«
Zum ersten Mal mußte sich Nimor ernsthaft die Frage stellen, ob er wohl zu viele Feinde Menzoberranzans zusammengebracht hatte. So lief Diplomatie im Unterreich. Keine Allianz verlor je ihre Nützlichkeit, nicht einmal einen Herzschlag lang.
Zu seiner Überraschung kam ihm Aliisza zu Hilfe.
Das Alu’Scheusal lehnte sich gegen Kaanyr und erklärte: »Er wird bei keinem von Euch seine Versprechen einlösen können, solange die Stadt steht. Wie soll er das auch? Wenn Ihr Euch nicht einigt, werden wir alle mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.«
Читать дальше