»Kommt diesen Teichen nicht zu nahe«, hatte Tzirik sie gewarnt. »Wenn Ihr dort eindringt, werdet Ihr auf eine andere Existenzebene gebracht, und ich habe kein Interesse, mich in fremde Welten zu begeben, nur weil jemand zu sorglos reist.«
»Woher wissen wir, welcher uns zum Abyss führt?« fragte Valas.
»Keine Sorge, mein Freund. Der Zauber, den Vhaeraun mir gewährte, sorgt auch für eine bestimmte Tendenz hin zu unserem Ziel, die ich empfing, als ich meinen Geist auf diese Ebene brachte. Ich führe uns alle mehr oder weniger direkt zum nächsten Farbteich, der unseren Zwecken dienen wird.«
»Wie lange müssen wir noch reisen?« fragte Quenthel.
»Wir kommen näher«, antwortete Tzirik. »Es ist schwer zu sagen, aber ich würde annehmen, daß wir noch vier oder fünf Stunden von unserem Ziel entfernt sind. Wir sind inzwischen fast zwei Tage gereist.«
Zwei Tage? Halisstra kam es nicht annähernd so lang vor.
Sie fragte sich, was wohl in den letzten beiden Tagen in Faerûn geschehen sein mochte. Wachte Jeggred noch über ihre reglosen Körper? Er konnte seine Aufgabe nicht nachlässig erfüllt haben, da sie noch lebten, doch wie viele Tage mochten noch vergehen, ehe sie ihr endgültiges Ziel erreicht, die Göttin um eine Audienz ersucht und die Rückkehr in ihre eigentliche Ebene geschafft hatten?
Gedankenversunken verbrachte sie die Reise schweigsam, bemerkte dabei aber kaum, daß ihre Gefährten sich nicht anders verhielten. Um so mehr überraschte es sie, als Tzirik seinen mühelosen Flug verlangsamte und dann reglos verharrte. Vor ihm befand sich ein schwarzer Wirbel mit silbernen Streifen, der nicht weit von den Reisenden entfernt langsam durch das Astralmedium peitschte.
»Der Eingang zur sechsundsechzigsten Ebene des Abyss«, erklärte der Priester Vhaerauns. »Bislang ist unsere Reise ohne jegliche Zwischenfälle verlaufen, doch sobald wir uns in Lolths Reich begeben, wird sich das ändern. Wenn Ihr Zweifel an Eurer Mission habt, Herrin Baenre, dann wäre dies ein guter Zeitpunkt, sie zu äußern.«
»Ich habe keinen Grund, den Abgrund der Dämonennetze zu fürchten«, gab Quenthel zurück. »Ich beabsichtige zu tun, wofür ich hergekommen bin.«
Ohne auf Tzirik zu warten, schoß sie vor und tauchte in den wirbelnden, pechschwarzen Klecks. Von einem Augenblick auf den anderen wurde ihre strahlende Astralform von dem Mahlstrom geschluckt.
»Sie ist ungeduldig, nicht?« merkte Tzirik an.
Er zuckte kurz die Achseln und begab sich selbst in den Farbteich. Wie Quenthel verspürte auch Halisstra in diesem Moment Gewißheit, und sie wollte sich nicht von irgendwelchen Zweifeln von ihrem beabsichtigten Kurs abbringen lassen. Sie drang in den Teich aus wirbelnder schwarzer Nacht ein, kaum daß Tzirik dort verschwunden war, die Zähne trotzig gefletscht.
Zunächst spürte sie überhaupt nichts, auch wenn der Pfuhl ihr im Augenblick des Eintauchens gänzlich die Sicht nahm. Das Medium schien sich von der Astralebene nicht zu unterscheiden – ein schwereloses, kühles, vollkommenes Nichts –, doch mit einem Mal erfaßte die wirbelnde Strömung des Teiches sie, zog an ihr mit einer befremdlichen, nicht-dimensionalen Beschleunigung, die ihre stoffliche Form in eine Richtung zerrte, die sie nicht einmal annähernd verstand. Es schmerzte nicht, aber es fühlte sich so fremdartig an, so verwirrend, daß Halisstra entsetzt und gequält nach Luft rang und unter der Umklammerung durch den astralen Mahlstrom heftig erbebte.
Lolth, hilf mir! flehte sie stumm in ihrem Geist, während sie mit den Armen ruderte und versuchte, sich aus der wirbelnden Masse zu befreien. Die unbeschreibliche Bewegung hielt noch einen Moment lang an, dann ...
... hatte sie es geschafft.
Halisstra taumelte wie trunken, als die Schwerkraft zurückkehrte, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, daß sie auf etwas Silbergrauem lag, einer steilen Rampe oder Mauer, die vor ihr bis ins Unendliche abfiel. Die anderen standen ganz in ihrer Nähe und sahen sich schweigend um, während sie sich nervös die Gliedmaßen rieben oder nach ihren Waffen tasteten.
Ringsum gab es nur schwarze, erdrückende Leere, die dunkler und unheilvoller war als die schwärzeste Schlucht im Unterreich. Ein übler, beißender Geruch erfüllte ihre Nasenlöcher, und ein leise murmelnder Luftzug bewegte sich unablässig von unten nach oben. Halisstra sah in den Abyss zu ihrer Linken und sah dort etwas schimmern, einen mattsilbernen Faden, der mehrere Kilometer entfernt war und sich durch die Finsternis zog. Kleinere Fäden kreuzten ihn in unregelmäßigen Abständen, und als sie ihnen mit den Augen folgte, sah sie, daß sie sich langsam nach oben bewegten und mit der Rampe zusammentrafen, auf der sie stand. Die heiße, stinkende Brise wurde stärker und schaffte es dann, den gewaltigen Faden sanft schwingen zu lassen.
»Es ist ein Spinnennetz«, murmelte Ryld. »Ein riesiges Spinnennetz.«
»Überrascht dich das?« erwiderte Pharaun zynisch lächelnd.
Danifae ging ein paar zaghafte Schritte auf dem Faden. Das Ding hatte einen Durchmesser von dreißig oder vierzig Schritt, doch da die Oberfläche rund war, empfand sie es als unangenehm, wenn sie sich mehr als ein Dutzend Schritte vom hochsten Punkt des Fadens bewegte. Sie kniete sich hin und strich mit der Hand über die Oberfläche des Fadens, dann verzog sie das Gesicht.
»Klebrig, aber nicht gefährlich. Außerdem scheint es so, als seien wir wieder vollkommen stofflich.« Sie richtete sich auf und reckte sich ausgiebig. »Habe ich nun zwei Körper? Einen hier und einen in der Jaelre-Burg?«
»Genaugenommen ist das so«, antwortete Tzirik. »Wenn man die Astralsee verläßt und sich auf eine andere Ebene begibt, dann baut der reisende Geist sich den stofflichen Körper, den er erwartet. Man könnte sagen, Euer Geist müsse sich einer Art Verdichtung unterziehen, um auf einer anderen Ebene eine physische Existenz anzunehmen. Wenn Ihr diesen Ort verlaßt, wird Euer Geist auf die Astralebene zurückkehren, während die Hülle, die Ihr für Euch geschaffen habt, verblaßt.«
»Ihr scheint mit den Unbilden der Reisen auf andere Ebenen gut vertraut zu sein«, stellte Halisstra fest.
»Vhaeraun hat mich schon mehrfach in die Ebenen jenseits Faerûns geschickt«, räumte Tzirik ein. »Ich war auch schon hier im Abgrund der Dämonennetze. Alle Götter unserer Rasse sind hier zu Hause, jeder in seinem eigenen Reich innerhalb dieser großen Netzspalte. Mein vorangegangener Auftrag führte mich nicht in Lolths Reich, und er liegt auch schon viele Jahre zurück.«
Quenthel warf ihm einen finsteren Blick zu. »Der gesamte Abgrund der Dämonennetze ist Lolths Reich, Ketzer. Sie ist die Königin über diese Ebene des Abyss, während die anderen sogenannten Götter unseres Volkes hier nur mit ihrer Duldung existieren.«
»Ich bin sicher, daß Ihr korrekt nachgeplappert habt, was Euch Euer Glaube in dieser Angelegenheit vorschreibt, daher werde ich mit Euch nicht über diesen Punkt streiten, Priesterin Lolths. Für unsere Zwecke ist das genaue Verhältnis der Gottheiten untereinander in diesem Pantheon nicht wichtig.«
Tzirik wandte Quenthel den Rücken zu und betrachtete den schwarzen Abgrund rings um die Gruppe. Mit der Hand beschrieb er eine wischende Bewegung.
»Irgendwo unter uns werden wir eine Art Tor oder Grenze finden, die die Stelle markiert, an der sich der Zugang zu Lolths Reich öffnet – das, soweit ich weiß, dem übrigen Abgrund der Dämonennetze recht ähnlich ist, das aber ihren Launen unterworfen ist.«
»Wenn die Ebene unendlich ist, dann könnte der Punkt, den wir suchen, unendlich weit entfernt sein«, merkte Pharaun an. »Wie sollen wir von hier nach dort gelangen?«
»Wenn wir einfach an einem beliebigen Punkt in dieser Ebene materialisiert wären, hättet Ihr recht«, gab Tzirik zurück. »Doch die Astralprojektion ist keine zufällige Reisemethode. Wir sind nicht weit von dem Ort entfernt, den wir suchen – ein Marsch von einer Stunde, höchstens von einem Tag, aber nicht viel weiter. Da wir wissen, daß Lolths Reich am Nadir dieses Ortes gelegen ist, würde ich vorschlagen, daß wir nur an diesem Faden hinabsteigen und an jeder weiteren Verzweigung wiederum den Weg nach unten wählen. Unterwegs sollten wir aber wachsam sein.«
Читать дальше