»Versucht es dennoch«, zischte Triel. »Setzt Sklaventruppen ein, laßt genügend Offiziere zurück, damit sie nicht auf einmal die Flucht ergreifen. Wir brauchen Zeit, Waffenmeister, und es ist der Zweck einer Nachhut, uns diese Zeit zu verschaffen.«
Andzrel wandte nichts dagegen ein, während Triel weiterging, um ihre Gedanken zu ordnen. Drow-Rebellen, Sklavenaufstände, Duergar-Armeen, finsterer Verrat, ein verschwundener Erzmagier und Horden von Tanarukks – konnte es wirklich noch schlimmer kommen? Wo sollte sie anfangen, um auch nur eines dieser Probleme zu bewältigen? Sollte sie Agrach Dyrr angreifen, obwohl ihr die magische Kraft der versammelten Priesterinnen fehlte? Die Duergar an einer anderen Stelle bekämpfen und den Tanarukks gestatten, sich an ihnen vorbeizubewegen?
»Wie konnte das geschehen?« murmelte sie.
»Agrach Dyrr war mit den Feinden unserer Stadt verbündet«, erwiderte Zal’therra. »Sie machten sich zur Vorhut unserer Armee, doch statt die Säulen des Leids gegen die Duergar zu verteidigen, ließen sie uns in eine Falle laufen. Für diesen Verrat müssen sie ausgelöscht werden.«
»Ich sprach nicht mit Euch!« herrschte Triel sie an, die sich nicht länger beherrschen konnte.
Auch wenn sie wußte, daß Zal’therra nichts für das Desaster konnte, mußte sie ihrer Wut freien Lauf lassen. Sie verpaßte ihr einen wuchtigen Schlag, der Zal’therra fast umriß, obwohl sie gut dreißig Zentimeter größer und mindestens fünfzehn Kilo schwerer war.
»Ihr hättet mit einem Verrat rechnen müssen, Ihr Närrin!« knurrte Triel. »Warum waren unter den Spähern keine Baenre-Offiziere? Warum habt Ihr nichts getan, um die Berichte zu überprüfen, mit denen Agrach Dyrr Euch versorgte? Wenn Ihr auch nur die mindesten Sicherheitsvorkehrungen getroffen hättet, wäre unsere Armee nicht so stark dezimiert worden!«
Zal’therra wich zurück und erwiderte: »Muttermatrone, wir waren alle mit Andzrels Plänen einverstanden ...«
»Andzrel ist eine Waffe . Die Armee unseres Hauses ist eine Waffe. Ihr seid die Hand, die diese Waffen gegen unsere Feinde führen muß. Ich schickte Euch aus, um Euer Urteilsvermögen anzuwenden und Entscheidungen zu fällen, Euren Kopf zu benutzen und zu denken !«
Triel machte auf dem Absatz kehrt, um nicht noch einmal auf Zal’therra einzuschlagen. Wenn sie das getan hätte, hätte sie vielleicht nicht mehr aufhören können, und ob es ihr gefiel oder nicht, Zal’therra war wohl die vielversprechendste ihrer Basen. Triel würde nicht ewig leben, und sie mußte sich darüber Gedanken machen, Haus Baenre mit wenigstens einigen fähigen Priesterinnen zu versorgen, wenn der Tag kommen sollte, an dem sie ihre Schwestern ermorden mußte.
»Muttermatrone«, brachte Zal’therra heraus, die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Ich entschuldige mich für mein Versagen.«
»Ich habe keine Entschuldigung gefordert, Mädchen, und eine Baenre sollte sich nie von sich aus entschuldigen«, grollte die Muttermatrone. »Aber ich werde Euch Gelegenheit geben, mir zu beweisen, daß Ihr einfallsreich genug seid, um mich über Euer Scheitern hinwegsehen zu lassen. Ihr werdet das Kommando über die Nachhut übernehmen.«
Triel wies nach Süden. Die Chancen waren groß, daß sie ihre Base in den Tod schickte, doch sie mußte wissen, ob Zal’therra den Mut und die Entschlossenheit besaß, um das Haus Baenre führen zu können. Wenn sie einen Weg fand, diesen Auftrag zu überleben und einen Erfolg zu erzielen, dann würde Triel erwägen, sie am Leben zu lassen.
»Laßt die Duergar um jeden Schritt kämpfen, der sie näher an Menzoberranzan heranbringt«, fügte Triel an. »Euer Überleben hängt von Eurem Erfolg ab. Wenn Ihr diesen Tunnel aufgebt, ehe drei Tage verstrichen sind, lasse ich Euch kreuzigen.«
Zal’therra verbeugte sich und eilte davon. Triel wandte sich wieder dem Waffenmeister zu.
»Glaubt nicht, daß ich Euch keine Schuld gebe«, flüsterte sie. »Ihr wart der Urheber dieser großartigen Strategie, auf die ich die Macht und das Prestige des Hauses Baenre setzte. Diese Strategie hat uns ein Desaster beschert, wie wir es seit Mithralhalle nicht mehr erlebt haben. Unter anderen Umständen würde ich Euch in eine Grube voller hungriger Tausendfüßler werfen, doch dies ... sind untypische Zeiten. Außerdem besteht eine kleine Chance, daß Euer Geschick und Euer Strategieverständnis sich in naher Zukunft als nützlich erweisen könnten. Also enttäuscht mich nie wieder.«
»Ja, Muttermatrone«, sagte Andzrel und verbeugte sich tief.
»Also«, fuhr sie fort, »wo werden wir die Duergar und ihre Verbündeten aufhalten?«
Ohne zu zögern erwiderte der Waffenmeister: »Gar nicht. Angesichts der Verluste, die wir erlitten haben, rate ich zum Rückzug nach Menzoberranzan, wo wir uns auf eine Belagerung einrichten sollten.«
»Das gefällt mir nicht«, fuhr Triel ihn an. »Das riecht nach Niederlage, und je länger die Truppen uns belagern, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie von einem anderen Feind verstärkt werden, beispielsweise von den Betrachtern oder den Gedankenschindern.«
»Das ist natürlich möglich«, sagte Andzrel bemüht neutral. »Doch es wird für die Duergar nicht leicht sein, eine Belagerung rings um Menzoberranzan durchzuhalten, wenn sie dabei hundertfünfzig Kilometer von ihrer eigenen Stadt entfernt sind. Ich glaube nicht, daß die Duergar es länger als ein paar Monate durchstehen können. Ich bezweifle auch, daß sie zahlenmäßig stark genug sind, um die Stadt zu stürmen. Unsere beste Vorgehensweise ist die, die Duergar zu einer Belagerung zu zwingen, um festzustellen, mit welcher Bedrohung wir es zu tun haben. Inzwischen böte sich für uns die Gelegenheit, Haus Agrach Dyrr zu vernichten.«
»Ihr habt Angst davor, Euch den Duergar erneut in einer Schlacht zu stellen?« fragte Triel heiser.
»Nein, aber ich will keine Vorgehensweise empfehlen, die für unsere Stadt die Gefahr einer Schlacht birgt, auf die wir nicht vorbereitet sind – zumindest nicht, solange wir keine andere Wahl haben. An dem Punkt sind wir noch nicht.« Er machte eine Pause, dann fügte er an. »In der Stadt können wir wieder zu Kräften kommen und innerhalb weniger Tage erneut zur Tat schreiten, wenn es sich als notwendig erweisen sollte.«
Triel dachte über Andzrels Rat nach.
»Ich werde nach Menzoberranzan zurückkehren und die Angelegenheit dem Rat vortragen«, entschied sie dann. »Bis Ihr einen gegenteiligen Befehl bekommt, zieht Ihr Euch zurück. Die Hauptleute in der Stadt lasse ich alles für eine Belagerung vorbereiten.«
Halisstra öffnete die Augen und fand sich in einer endlosen silbernen See treibend wieder. Sanfte graue Wolken zogen langsam in der Ferne vorüber, während fremdartige dunkle Streifen unheilvoll über den Himmel zuckten, deren Enden so weit entfernt waren, daß sie sie nicht ausmachen konnte und deren Mittelteile sich wütend drehten wie ein Stück Faden, den ein Kind zwischen den Fingern rollte. Sie sah nach unten, da sie sich fragte, was ihr Halt gab, sah aber überall nur den seltsamen perlmuttfarbenen Himmel.
Überrascht über diesen eigenartigen Anblick atmete sie abrupt ein, woraufhin sich ihre Lungen mit etwas füllten, das etwas süßlicher und vielleicht auch ein wenig fester war als Luft. Doch statt zu würgen oder an dieser Masse zu ertrinken, schien sie bestens daran gewöhnt zu sein. Ein Schauder lief durch ihre Glieder, daß sie sich über den so simplen Akt des Atmens wunderte.
Halisstra hob ihre Hand ans Gesicht in dem unterbewußten Wunsch, ihre Augen abzuschirmen, wobei sie merkte, daß ihre Sehfähigkeit unnatürlich scharf war. Jedes Glied ihres Kettenhemdes sprang ihr als perfekt symmetrisch entgegen, die Ränder waren absolut präzise gezeichnet, auf dem Leder ihrer Handschuhe konnte sie die Ölschichten und die übereinanderliegenden Flecken erkennen.
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