Ihr fehlten die Worte.
»Ihr habt euch noch nie hierher gewagt, Herrin Melarn?« fragte Tzirik von irgendwo hinter ihr.
Halisstra drehte den Kopf, um nach ihm zu sehen, doch als Reaktion darauf schien sich das gesamte Bild vor ihren Augen in einer schnellen, reibungslosen Bewegung zu verschieben. Dann sah sie die Körper ihrer Gefährten vor sich treiben. Der Priester Vhaerauns stand – nein, das paßte nicht, er schwebte vielmehr – ein Dutzend Schritte von ihr entfernt, seine Rüstung war messerscharf umrissen, sein Mantel wurde von einer sanften Brise bewegt, von der Halisstra nichts spürte. Er sprach leise, doch seine Stimme war wundersam klar und deutlich, als sei er nur eine Armlänge von ihr entfernt.
»Ich hätte erwartet, eine Priesterin von Eurem Status wäre mit der Astralebene vertraut«, fügte der Priester an.
»Ich wußte etwas darüber, was mich hier erwarten würde, doch ich hatte nie Gelegenheit, selbst andere Ebenen zu bereisen«, erwiderte sie. »Mein Wissen über diesen Ort ist allenfalls ... theoretisch.«
Sie bemerkte, daß jeder ihrer Kameraden genauso scharf umrissen, genauso greifbar und real wirkte wie Tzirik. Von einem Punkt, den sie nicht recht wahrnehmen konnte – irgendwo an ihrem Rücken oder am Genick –, entsprang eine schlanke, schimmernde Sehne aus silbrigem Licht.
Halisstra griff an ihren Kopf und ertastete dort ein ebensolches Band. Die warme, pulsierende Arterie strahlte Energie aus, und als ihre Finger darüber strichen, zuckte ein heftiger Schlag durch ihren Leib, als hätte sie an den Herzfasern ihrer eigenen Seele gezupft. Sie riß die Hand zurück und nahm sich vor, das Band nie mehr zu berühren.
»Euer Silberband«, erklärte Tzirik. »Ein fast unzerstörbares Band, das Eure Seele mit ihrem angestammten Heim verbindet: Eurem Körper daheim in der Minauth-Feste.« Er lächelte gehässig. »Ihr solltet sorgsam damit umgehen, denn es gibt einige Dinge, die das Band eines Astralreisenden durchtrennen können, doch wenn das geschieht, wird der Reisende augenblicklich vernichtet.«
Halisstra sah, wie Ryld nach seinem Band tastete und genausoschnell wie sie die Hand zurückriß.
»Wie weit reichen diese Dinger?« fragte der Waffenmeister.
»Sie sind unendlich, Meister Argith«, sagte Tzirik. »Keine Sorge, dreißig bis sechzig Zentimeter nach dem Austreten aus dem Körper werden sie unfaßbar, so daß Ihr darüber fallen könnt. Das Band hat außerdem die Angewohnheit, nicht in den Weg zu geraten, ohne daß Ihr Euch darüber Gedanken machen müßt.«
Halisstra sah die Gruppe an und beobachtete, wie die Menzoberranzanyr damit kämpften, sich an ihre neue Umgebung anzupassen. Ryld und Valas Hune ruderten langsam mit Armen und Beinen, als versuchten sie zu schwimmen. Quenthel trieb stocksteif dahin, die Arme gegen den Rumpf gedrückt, während Danifae sich lässig treiben ließ und ihr langes weißes Haar ihr wie ein Welle folgte. Pharaun wartete einfach ab, aber in seinen Augen war ein amüsiertes Funkeln zu sehen, als er die Anstrengungen seiner Gefährten beobachtete. Tzirik sah sich nur um, betrachtete ihre Umgebung und nickte.
»Dies ist eine Art zeitloser Ort«, sagte er, »dennoch verstreicht hier Zeit, deshalb schlage ich vor, wir beginnen unsere Reise. Folgt mir und bleibt dicht hinter mir. Ihr glaubt vielleicht, unendlich weit sehen zu können, doch Dinge verschwinden hier leicht im Nebel.«
Er glitt davon, ohne sich zu regen. Die Arme hielt er verschränkt, während sein Mantel lautlos hinter ihm flatterte.
Ihm folgen? fragte sich Halisstra und sah dem Priester nach. Doch allein der Wunsch, in der Nähe dieses Mannes zu bleiben, bewirkte, daß sie einen gewaltigen Sprung nach vorn machte, so immens, daß ihr nächster Impuls der war, laut »Stop!« zu rufen, auch wenn der Ruf nur ihr selbst gegolten hätte.
Genau das tat sie auch und stoppte so abrupt, daß ihr Verstand ihr sagte, sie müsse einfach nach vorn kippen, da sie viel zu plötzlich angehalten hatte. Sie beschrieb hastig eine Kreisbewegung, dann kam sie zur Ruhe. Zum Glück hatte sie nicht als einzige Schwierigkeiten. Ryld und Valas Hune stießen zusammen und klammerten sich aneinander fest, da sie sich nicht wieder allein in der Leere bewegen wollten.
»Oh, im Namen der Göttin!« murrte Quenthel, als sie sie beobachtete. »Leert einfach Euren Geist und denkt daran, wohin Ihr wollt.«
»Bei allem Respekt, Herrin, wohin wollen wir gehen wollen?« fragte Valas, während er sich von Ryld löste.
»Konzentriert Euch darauf, Tzirik zu folgen«, gab die Baenre zurück. »Er hat den Zauber gewirkt, also wird er auch das Portal in den Abgrund der Dämonennetze finden können. Es kann einige Stunden dauern, aber Ihr werdet merken, daß die Zeit hier sehr sonderbar verstreicht.«
Mit diesen Worten folgte Quenthel Tzirik.
Halisstra schloß die Augen, holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, Tzirik in angemessener Entfernung zu folgen. Sie schloß rasch und mühelos zu ihm auf, und diesmal ließ sie es nicht zu, in Panik zu geraten. Kurz darauf befanden sich auch die anderen neben ihr, und mit jedem Moment gewöhnten sie sich mehr an die fremdartige Astralebene. Halisstra ließ sich hinreißen, mit der Art der Fortbewegung zu experimentieren, indem sie mal in die Horizontale wechselte, als fliege sie wie ein Vogel durch die perlmutterne Leere, dann wieder bewegte sie sich, als gehe sie zügig, ohne aber ihre Beine zu bewegen.
Wie sich herausstellte, war es völlig egal, was sie mit ihrem Körper tat, solange ihr Geist darauf ausgerichtet war, in der Nähe ihrer Gefährten zu bleiben. Allmählich begann sie die wahre Stofflosigkeit der Astralsee zu begreifen. Sie war nur ein Geist, schwerelos und vollkommen, doch befand sie sich an einem Ort, an dem Geister faßbar wurden. Irgendwo jenseits der unendlichen perlmutternen Weite lagen die Reiche der Götter, Tausende verschiedener Existenzkonzepte, von denen aus die göttlichen Wesen über das Schicksal Faerûns – und aller Welten überhaupt – herrschten. Sie konnte Hunderte von Lebensspannen damit verbringen, diese Reiche zu erkunden, die an die Astralsee angrenzten, und trotzdem würde sie sie niemals alle zu Gesicht zu bekommen.
Der Gedanke sorgte dafür, daß sie sich winzig und unbedeutend vorkam, und sie begann sofort, ihn zu vertreiben. Lolth hatte sie nicht in den Abgrund der Dämonennetze gerufen, damit sie sich von der silbrigen Leere der Astralebene überwältigen ließ. Sie hatte Halisstra und die anderen gerufen, damit sie ihr ihren Glauben und ihre Bewunderung aussprachen. Welchen anderen Grund sollte Lolth sonst haben, ihren Getreuen alle Macht zu entziehen, Ched Nasad untergehen zu lassen und die erste Tochter des Hauses Melarn so unendlich leiden zu lassen?
Es gibt einen Sinn, sagte sich Halisstra, einen Sinn, der mir klarwerden wird, wenn mein Glaube stark bleibt.
Die Königin über den Abgrund der Dämonennetze hat uns bis hier geführt, sie wird uns auch noch ein Stück weiter führen.
Halisstra konnte nicht im entferntesten sagen, wie lange sie brauchten, um die Astralebene zu durchqueren. Ihr war zuvor nie bewußt gewesen, in welchem Ausmaß die routinemäßigen Abläufe des Körpers das Verstreichen der Zeit bestimmten. Ihre Astralform wurde weder müde noch hungrig, sie kannte keinen Durst und keine anderen Dinge, auf die sie achten mußte. Ohne die kleinen Dinge, die man erledigte, um den Bedürfnissen des Körpers nachzukommen – ein Schluck aus einem Wasserschlauch, wenn man durstig war; ein kurzer Halt während eines Marsches, um etwas zu essen; ein Stop, um in Trance zu versinken und die grellen Stunden des Tages hinter sich zu bringen –, verlor die Zeit schlicht ihre Bedeutung.
Von Zeit zu Zeit erhaschten sie kurze Blicke auf andere Phänomene als die endlosen perlmutternen Wolken oder die grauen Wirbel, die sich ringsum über den Himmel zogen. Sonderbare Fetzen Materie trieben durch die Astralsee, gelegentlich entdeckten sie Findlinge, Felsstücke oder Erdhaufen, die wie winzige Welten im Raum schwebten. Manche hatten fast die Größe von Bergen, andere maßen nur ein paar Schritt. Die größeren von ihnen zierten eigenartige Ruinen, die das Heim von Astralreisenden oder von vor langer Zeit fortgegangenen Bewohnern zu sein schienen. Das Sonderbarste, was ihnen begegnete, waren wirbelnde Farbteiche, die sich langsam im astralen Medium drehten. Die Farbtöne reichten von hellem, glänzendem Silber bis zum tiefsten Nachtschwarz, durch das sich purpurne Streifen zogen.
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