»Kommt zusammen, werte Freunde«, verkündete Pharaun mit einer ausholenden Geste, »dann werde ich Euch einige Dinge erklären, die Ihr besser nicht vergessen solltet, wenn wir uns in den Schatten bewegen.«
Der Magier stand in der Mitte des Raums, die Arme gefaltet, und ließ nach der verzweifelten Flucht des nahezu abgelaufenen Tages keine Spur von Erschöpfung oder Hoffnungslosigkeit erkennen. Er war kurz vor Sonnenuntergang aus seiner Träumerei erwacht und hatte fast eine Stunde damit zugebracht, Dutzende von Zaubern aus seinen gesammelten Bänden vorzubereiten.
Zwar machte sich keiner der Anwesenden die Mühe, sich zu nähern, dennoch richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Pharaun grinste erfreut darüber, daß jeder von ihm Notiz nahm. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, als würde er irgendwelchen Schülern in Sorcere einen Vortrag halten, und begann: »Sobald wir bereit sind, werde ich uns auf einen Weg führen, der am Rand entlangführt – dem Rand der Ebene der Schatten. Wir werden zügig reisen, und kleinere Hindernisse wie verschneite Gebirge, hungrige Monster und dickköpfige Menschen werden kein Thema sein. Ich gehe davon aus, daß wir zehn bis zwölf Stunden marschieren müssen, ehe wir Mantol-Derith erreichen, vorausgesetzt natürlich, ich verlaufe mich nicht und führe Euch alle in ein grausiges Ende auf einer wilden Ebene weit weg von Faerûn.«
»Deine Worte machen mir keinen Mut, Pharaun«, seufzte Ryld.
»Oh, ich habe mich noch nie im Tiefschatten verirrt, und ich kenne auch keinen Magier, dem das je widerfahren ist. Natürlich würde man auch nie wieder von einem Kollegen hören, dem etwas Derartiges widerfährt, daher kann es natürlich sein, daß sich durch einen Fehltritt beim Schattenwandeln das Verschwinden eines jungen Magiers erklären ließe, den ich mal kannte und der ...«
»Zur Sache«, herrschte Quenthel ihn an.
»Gut. Es gibt zwei wichtige Dinge, an die diejenigen unter uns denken müssen, für die dieses Unternehmen eine Herausforderung darstellt. Erstens: Zwar müssen wir uns nicht vor Schwierigkeiten fürchten, während wir uns durch diese Welt bewegen, doch wir genießen keinen speziellen Schutz vor den Gefahren auf der Ebene der Schatten. Es gibt dort Dinge, die sich gegen unsere Durchreise aussprechen werden, wenn sie auf uns stoßen. Ich begegnete selbst einer solchen Kreatur, als ich das letzte Mal auf diese Weise reiste – und fast wäre es für mich das letzte meiner wunderbaren Abenteuer geworden.«
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Zweitens, und das ist das wichtigste überhaupt: Verliert mich nie aus den Augen. Bleibt dicht hinter mir und folgt genau meinem Weg. Wenn Ihr den Kontakt zu mir verliert, während wir uns auf der Ebene der Schatten bewegen, werdet Ihr wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit durch diese düstere Einöde wandern – oder solange, bis Euch irgend etwas Schreckliches verspeist, was wahrscheinlich eher passieren wird. Ich muß mich die ganze Zeit über völlig darauf konzentrieren, den Zauber aufrechtzuerhalten und am Rand entlangzugehen. Also macht Ihr es mir bitte nicht allzuleicht, Euch zu verlieren – es sei denn, ich kann einen von Euch nicht leiden. Dann steht es Euch frei, Euch nach Belieben in Tiefschatten umzusehen.«
»Wird es den Lamien möglich sein, uns zu folgen?« fragte Ryld, der nach wie vor den Gang im Auge hatte, der zu den Ruinen über ihnen führte.
»Nein, es sei denn, sie hätten einen so erfahrenen und netten Magier wie mich, der zudem noch einen Zauber kennt, mit dem es ihm möglich ist, Schattenwandler aufzuspüren – einen Zauber also, der mir nicht bekannt ist.« Pharaun lächelte. »Du wirst in der Lage sein, den Staub von deinen Stiefeln zu schütteln, Freund Ryld. Sorge dich nicht mehr um die Gefahren an diesem Ort hier, sondern spar dir deine Bedenken für das auf, was uns am Rand begegnen könnte.« Pharaun sah sich um und nickte zufrieden. »Nun denn. Faßt Euch an der Hand – ja, das ist gut, Jeggred, du kannst alle gleichzeitig festhalten, nicht wahr? – und wahrt Ruhe, während ich den Zauber wirke.«
Pharaun hob die Hände und murmelte eine Reihe arkaner Silben, als er seinen Zauber durchging.
Halisstra stand zwischen Danifae und Valas Hune und hielt sie an den Händen. Der große unterirdische Gang wurde auf eine seltsame Weise noch finsterer, wenn so etwas in einem unbeleuchteten Raum unter der Erde überhaupt möglich sein konnte. Drow konnten auch in der tiefsten Finsternis noch gut sehen, doch Halisstra kam es vor, als hinge eine Art Nebel in der Luft. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre es Pharaun gerade mal gelungen, die Gruppe mit einem düsteren Schein zu umgeben, doch als sie ihre Umgebung genauer betrachtete, erkannte sie, daß sie sich nicht länger auf Faerûn befand. Ein unnatürlicher Schauder lief über ihre Haut, der von dem kalten Staub unter ihren Füßen ausging. Die hohen, runenüberzogenen Säulen, die den Raum gesäumt hatten, waren zu Zerrbildern geworden, die bizarr über die Kammer hinaus nach oben ragten.
»Seltsam«, murmelte sie. »Ich hatte erwartet, es würde irgendwie ... anders sein.«
»So ist der Schatten, werte Dame«, erwiderte Pharaun. Seine Stimme klang tonlos und weit entfernt, obwohl er keine zwei Meter von ihr entfernt stand. »Die Ebene besitzt keine eigene Substanz. Sie besteht aus den Echos unserer eigenen Welt und denen anderer, fremdartigerer Orte. Wir stehen im Schatten der Ruinen über uns, aber es sind nicht die gleichen Ruinen, durch die wir erst vor kurzem noch gereist sind. Die Lamien und ihre Diener existieren hier nicht. Nun denkt daran, was ich gesagt habe: Bleibt zusammen und verliert mich nicht aus den Augen.«
Der Magier machte sich auf den Weg durch den Gang, der an die Oberfläche führte. Halisstra blinzelte. Er machte nur einen kleinen Schritt, als er sich von der Gruppe wegdrehte, doch im nächsten Moment stand er schon am anderen Ende des Raums, und ein weiterer Schritt brachte ihn bedenklich weit in den Gang davor. Sie beeilte sich, zu ihm aufzuschließen, mußte aber feststellen, daß ein Schritt genügte, um den Raum in Dunkelheit verwischen zu lassen. Sie stand im gleichen Augenblick so dicht vor Pharaun, daß sie sich zwingen mußte, nicht zurückzuweichen und so den Abstand zu ihm nur wieder zu vergrößern.
Pharaun lächelte angesichts ihrer Verwirrung und sagte: »Ich fühle mich von dieser Aufmerksamkeit geschmeichelt, meine Dame, aber Ihr müßt nicht ganz so dicht bei mir bleiben.« Er lachte. »Macht einfach nur dann einen Schritt, wenn ich einen mache, dann werdet Ihr leichter in meiner Nähe bleiben.«
Er machte einige langsame, gemäßigte Schritte und hielt sich zurück, bis der Rest der Gruppe allmählich den Dreh fand. Augenblicke später gingen sie bereits unter einem kalten und sternenlosen Himmel durch die staubigen Straßen von Hlaungadath. Jeder Schritt schien Halisstra zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter auf dem düsteren Gelände voranzubringen. Die schwarzen Umrisse der Ruinen starrten sie an und streckten sich ihnen von allen Seiten entgegen, sie waren dicht über die Straße gebeugt, als wollten sie die Reisenden einschließen, um dann beim nächsten vorsichtigen Schritt zu schwarzen Flecken zu verwischen.
Als sie die Ruinen hinter sich gelassen hatten, hielt Pharaun kurz an, um einen Blick auf die Gruppe zu werfen. Mit einem Nicken deutete er auf die Wüste, die sich im Westen bis zu den eisigen Bergen erstreckte, dann begann er rasch zu marschieren und legte ein Tempo vor, das sein erschöpftes Verhalten und seine Abneigung gegen die Mühen des Reisens Lügen strafte. Halisstra, die nun endlich Gelegenheit bekam, ihre Beine zu strecken, bekam allmählich ein Gefühl dafür, wie schnell sie vorankamen. Nach fünf Minuten hatten sie die nesserische Stadt, die nur noch ein dunkler Fleck in der düsteren Sandlandschaft war, bereits kilometerweit hinter sich gelassen. Nach einer halben Stunde ragten die Berge, die kurz zuvor noch wie ein ferner Zaun aus schneebedeckten Spitzen ausgesehen hatten, wie ein nächtlicher Wall vor ihnen auf. Das Schattenwandeln erleichterte auch die Bewältigung jedes noch so unwegsamen Geländes auf ihrem Weg. Ohne zu zögern machte Pharaun einen Schritt über eine steile Schlucht, als gäbe es sie gar nicht. Die Magie seines Zaubers und die seltsame Ebene, auf der sie sich bewegten, sorgten dafür, daß er seinen Fuß sicher auf die andere Seite des Hindernisses setzen konnte. Die zerklüfteten Hänge zu bezwingen, die hinauf zu den Bergen führten, war nicht mühsamer, als würde man von Stein zu Stein springend einen Fluß überqueren.
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