Noch vor einem Tag hätte Halisstra Danifae als ihren kostbarsten Besitz bezeichnet. Sie war nicht nur zu unerschütterlicher Loyalität verpflichtet, sondern sie diente sogar als Vertraute, vielleicht sogar als ihre Freundin – auch wenn ihre Treue bloß die Folge eines Zaubers war. Sie hatten vieles geteilt und gemeinsam zahlreiche Intrigen geplant. Danifae war ihr bereitwillig in ihr selbstauferlegtes Exil gefolgt, hatte freiwillig ihre Leiden mitgetragen und ihren Dienst fortgesetzt. Natürlich hätte sie einen schrecklichen Preis dafür gezahlt, wenn sie nach Halisstras Flucht im Haus Melarn geblieben wäre. Aber war sie ihr etwas zu bereitwillig gefolgt?
»Hier stehe ich und habe Angst davor, meine Dienerin zur Rede zu stellen oder zu disziplinieren«, hauchte Halisstra. »Lolth hat mich wahrhaft tief sinken lassen.«
Halisstra hatte die Kälte in ihrem Herzen wieder unter Kontrolle und kehrte behutsam zu Ryld zurück. Der Appetit war ihr vergangen, doch sie durfte keinen Verdacht aufkommen lassen. Also machte sie erneut kehrt und begab sich ins Versteck der Gruppe, wobei sie sich ein leises Schlurfen ihrer Stiefelsohlen auf dem sandbedeckten Steinboden erlaubte, das sich in der Totenstille der Kammer fortpflanzte. Quenthel und Danifae sollten glauben, daß sie nichts mitbekommen hatte, doch von nun an würde sie die beiden noch genauer im Auge haben.
Nimor Imphraezl war auf seinem Weg durch die prachtvollen Paläste und zerklüfteten Stalagmiten von Qu’ellarz’orl, hatte den Piwafwi eng um sich gezogen und die Kapuze hochgeschlagen. Er trug das Abzeichen eines Kaufmanns und gab sich als wohlhabender Bürgerlicher aus, der geschäftlich auf dem Hochplateau der hochmütigsten Adelshäuser Menzoberranzans unterwegs war. Es war keine gute Tarnung, denn jeder, der seine selbstbewußte Gangart und sein schmissiges Auftreten aufmerksam beobachtete, würde ihn auf Anhieb als einen adligen Drow erkennen. Diese Art der Verkleidung war bei hochwohlgeborenen Männern nichts Ungewöhnliches, wenn sie unerkannt bleiben wollten. Mit dem einen oder anderen ihm zur Verfügung stehenden Zauber hätte er so gut wie jedes Aussehen annehmen können, das ihm in den Sinn kam, doch Nimor hatte schon vor langer Zeit entdeckt, daß die einfachsten Tarnungen oft die besten waren. Die meisten Drow-Häuser wurden durch Verteidiger bewacht, die sofort merkten, wenn sich ihnen jemand näherte, der den Schleier einer Illusion um sich gelegt hatte. Eine gewöhnliche Tarnung zu durchschauen, erforderte dagegen einen weltlichen Scharfsinn, den manche Drow vergessen hatten.
Zwei Soldaten der Baenre kamen ihm entgegen und betrachteten ihn neugierig und mit einem gewissen Argwohn. Nimor verbeugte sich tief und sprach einen gefälligen Gruß. Die beiden sahen noch ein- oder zweimal über die Schulter nach ihm, doch dann widmeten sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten. Junge Baenre-Männer waren zögerlich geworden, wenn es darum ging, einen Streit vom Zaun zu brechen, es sei denn, sie waren sich ihrer Sache wirklich sicher. Nimor machte auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel noch einen Umweg, damit er sichergehen konnte, daß sie nicht auf die Idee gekommen waren, ihn zu verfolgen. Nach einem letzten scharfen Knick, mit dem er jeden Verfolger abschütteln würde, wandte er sich dem von hohen Mauern umgebenen Palast zu, der nahe dem Zentrum der Hochebene stand, und näherte sich dem festungsähnlichen Tor.
Agrach Dyrr, das fünfte Haus Menzoberranzans, erstreckte sich in und um neun nadelgleiche Felstürme, die am Rand eines großen Grabens gelegen waren. Jeder spitz aufragende Fels war mit seinem Nachbarn durch eine elegante Wand aus mit Diamantspat verstärktem Stein, die unglaublich schlank und extrem fest war, verbunden. Schwebende Strebepfeiler, die Klingen glichen und hübsch anzusehen waren, bildeten eine Verbindung zwischen den natürlichen Türmen und jenen von Drow-Hand geschaffenen, eine dicht gedrängte Ansammlung von Minaretten und Spitzen inmitten der Anlage, die sich viele hundert Meter über der Ebene in die Höhe erstreckte. Eine Brücke ohne Geländer überspannte in einem einzigen eleganten Bogen die Kluft, die das Bauwerk umgab.
Nimor erklomm die Brücke und näherte sich gut sichtbar. Am anderen Ende versperrten ihm mehrere Schwertkämpfer und zwei kompetent wirkende Magier den Weg.
»Halt«, rief der Mann am Tor. »Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«
Der Assassine blieb stehen. Er spürte die unzähligen Mordwerkzeuge, die auf ihn gerichtet waren, als könnte er auf die Idee kommen, irgendeine völlig unangemessene Antwort zu geben.
»Ich bin Reethk Vaszune, Händler in magischen Ingredienzen und Reagenzien«, erklärte er und verbeugte sich, während er seine Arme ausbreitete. »Ich bin vom Alten Dyrr bestellt worden, um über einen Kauf meiner Waren zu sprechen.«
Der Hauptmann am Tor wurde gelassener und sagte: »Der Meister hat uns Euer Kommen angekündigt. Kommt.«
Nimor folgte dem Hauptmann durch eine Reihe ausladender Empfangssäle und hoher, ein deutliches Echo werfender Räumlichkeiten bis ins Herz des Schlosses von Agrach Dyrr. Dort wies der Hauptmann auf einen kleinen Warteraum, der mit exotischen Korallen und Kalkstein kunstvoll ausgestattet war, die alle an die Motive der Kuo-toa angelehnt waren, jener Fischwesen, die in manchen Seen des Unterreiches lebten. Der Raum, der exotisch genug war, um den Reichtum und Geschmack des Hauses zu belegen, strahlte Arroganz aus.
»Ich bin darüber informiert, daß Meister Dyrr in Kürze zu uns stoßen wird«, sagte der Hauptmann der Wache.
Im nächsten Moment öffnete sich lautlos eine Geheimtür in der gegenüberliegenden Wand, dann tauchte der Alte Dyrr auf. Der uralte Magier war wahrhaft alt und auch altersschwach, ein Anblick, wie man ihn von einem Elf nicht gewöhnt war, von einem Drow ganz zu schweigen. Er stützte sich auf einen Stab aus schwarzem Holz, und seine ebenso schwarze Haut schien so dünn und empfindlich wie Pergament. In den Augen des Mannes brannte ein heller, kalter Funke, der andeutete, daß Ehrgeiz und Lebenskraft trotz des hohen Alters noch immer in vollem Umfang vorhanden waren.
»Wir sind erfreut, Euch so schnell wiederzusehen, Meister Reethk«, erklärte der alte Drow mit rauher Stimme. »Hattet Ihr Gelegenheit, die Dinge zu erwerben, über die wir gesprochen haben?«
»Ich denke, Ihr werdet zufrieden sein, Meister Dyrr«, antwortete Nimor.
Er sah den Hauptmann an, der wiederum seinen Blick auf den alten Magier gerichtet hatte, um sicher sein zu können, daß er wegtreten durfte. Dyrr schickte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung fort, dann beschrieb der Magier eine andere Geste und sprach ein arkanes Wort, woraufhin der Raum von einer Sphäre aus wabernder Schwärze umgeben wurde, die wie ein Lebewesen leise fauchte und stöhnte.
»Ich hoffe, du wirst mir vergeben, daß ich Vorkehrungen treffe, um sicherzustellen, daß unsere Unterhaltung unter uns bleibt, Junge«, keuchte der alte Drow. »Lauschen scheint uns in die Wiege gelegt zu sein.«
Er schlurfte zu einem kunstvoll geschnitzten Stuhl und setzte sich langsam hin, wobei es ihm nichts auszumachen schien, daß er damit Nimor sein ungeschütztes Genick als Ziel bot.
»Eine sinnvolle Maßnahme«, sagte Nimor.
Der Alte stellt für mich keine Gefahr dar, dachte der Assassine. Entweder vertraut er mir – was eher unwahrscheinlich ist –, oder er ist sich seiner Sache sehr sicher. Wenn seine Zuversicht so groß ist, daß er sich mit mir hier einschließt, dann hat er keine Vorstellung von meiner Kraft, oder aber ich schätze ihn völlig falsch ein.
»Es ist Zuversicht, Junge«, erklärte der Alte plötzlich, »und du schätzt mich völlig falsch ein, weil wir beide mehr sind, als es den Anschein hat.« Dyrr lachte feucht und rasselnd. »Ich kenne deine Gedanken. Ich bin nicht durch Sorglosigkeit so alt geworden. Nun setz dich. Wir lassen die Spiele bleiben und kommen zum Geschäft.«
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