Plötzlich kreischte der Tarn auf und erschauerte in der Luft. Und schon war der Gedanke an die Leere des Sardargebirges wie fortgelassen, denn jetzt hatte ich eine Spur der Priesterkönige! Es war fast, als bebte der Vogel im Griff einer unsichtbaren Faust! Ich spürte nichts.
In den Augen des Vogels zeigte sich Entsetzen, eine Regung, die ich noch nie bei ihm erlebt hatte und die mir ganz unglaublich erschien. Zu sehen war nichts.
Widerwillig, protestierend, kreischend — so taumelte der Vogel hilflos hin und her, verlor an Hohe. Seine mächtigen Flügel peitschten sinnlos auf und ab, unkoordiniert, wie die Glieder eines Ertrinkenden. Es hatte den Anschein, als weigerte sich die Luft, sein Gewicht länger zu tragen. In trunkenen Kreisen, verwirrt, hilflos schreiend, fiel der Vogel weiter ab, wahrend ich mich verzweifelt an seinen Halsfedern festkrallte und mein Gleichgewicht zu halten versuchte.
Als wir eine Höhe von hundert Metern erreichten, war das seltsame Schauspiel so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Der Vogel gewann an Höhe und Kraft, gewann seine alte Energie zurück, doch er war seltsam erregt und ließ sich fast nicht mehr lenken.
Zu meiner Verblüffung begann er wieder anzusteigen, entschlossen, in der alten Höhe weiterzufliegen.
Immer wieder versuchte er an Höhe zu gewinnen, und immer wieder wurde er hinabgezwungen.
Durch das Gefieder spürte ich die Anspannung seiner Rückenmuskeln, spürte das erregte Schlagen des starken Herzens. Doch jedesmal, wenn wir eine bestimmte Höhe erreichten, verloren die Augen des Tarn ihren Glanz, und die Balance und die Flugtauglichkeit des Tieres gingen verloren. Nun war es nicht mehr ängstlich, sondern nur noch wütend. Und wieder versuchte es anzusteigen, schneller und wilder als zuvor. Hastig rief ich: »Vierter Zügel!« Ich befürchtete, das sich das mutige Tier eher umbringen würde, als der unsichtbaren Kraft nachzugeben, die seinen Weg versperrte.
Unwillig landete der Vogel auf der Grasebene, etwa zwei Kilometer von dem En’Kara-Markt entfernt. Ich glaubte einen tadelnden Blick der großen Tarnaugen wahrzunehmen. Warum sprang ich nicht wieder auf seinen Rücken und gab den Startbefehl? Warum versuchten wir es nicht noch einmal?
Ich tätschelte ihm den Schnabel und kratzte einige Läuse zwischen seinen Halsfedern hervor und strich sie ihm auf die Zunge. Der Tarn sträubte noch einige Sekunden lang ungeduldig die Federn, doch dann erlag er widerwillig der Delikatesse, und die Parasiten verschwanden in seinem gebogenen Schnabel.
Was mir eben widerfahren war, mußte dem ungeübten goreanischen Gehirn, besonders den Menschen niedriger Kasten, als Beweis für übernatürliche Kräfte, für den magischen Willen der Priesterkönige erscheinen. Ich selbst neigte nicht zu solchen Hypothesen.
Der Tarn war in eine Art Abwehrfeld geraten, das wahrscheinlich auf seine Ohren einwirkte und den Verlust des Gleichgewichtssinns zur Folge hatte. Eine Ähnliche Vorrichtung verhinderte vielleicht auch das Eindringen von Reittharlarions. Gegen meinen Willen mußte ich die Priesterkönige bewundern. Ich wußte nun, das die Berichte stimmten, die ich gehört hatte — daß alle, die das Sardargebirge betraten, zu Fuß kommen mußten.
Ich bedauerte es, den Tarn verlassen zu müssen, doch er konnte mich nicht begleiten.
Ich redete etwa eine Stunde auf ihn ein und versetzte ihm schließlich einen leichten Schlag gegen den Schnabel. Dann schob ich den Vogel von mir. Ich deutete über die Ebene, von den Bergen fort. »Tabuk!« sagte ich.
Das Tier rührte sich nicht.
Es war absurd, aber ich hatte das Gefühl, daß der Vogel glaubte, er habe mich enttäuscht, als er mich nicht in die Berge trug. Vielleicht ahnte er auch, daß ich nicht hier auf ihn warten würde, wenn er von der Jagd zurückkehrte.
Der große Kopf bewegte sich fragend hin und her, streckte sich vor und strich mir am Bein entlang.
»Flieg, Ubar des Himmels!« sagte ich. »Flieg!«
Als ich das Wort Ubar aussprach, hob der Tarn den Kopf. So hatte ich ihn genannt, als ich ihn in der tharnaischen Arena erkannte. Der große Vogel entfernte sich etwa fünfzehn Meter und schaute fragend zurück. Ich deutete über die Ebene.
Das Tier schüttelte sein Gefieder, schrie auf und schwang sich in den Wind. Ich sah zu, bis es als winziger Fleck am blauen Himmel verschwand.
Mir war seltsam traurig zumute, und ich machte mich auf den Weg zum Sardargebirge. Davor, auf der Grasebene, die ich überqueren mußte, lag der bunte En’Kara-Markt.
Ich hatte kaum einen Pasang zurückgelegt, als meine Aufmerksamkeit auf eine Baumgruppe jenseits eines kleinen Flusses gelenkt wurde — von dort ertönte der Entsetzensschrei eines Mädchens.
Schon sprang mein Schwert aus der Scheide, und ich watete durch den kalten Bach und hastete auf die Baumgruppe zu.
Wieder klang der Schrei auf.
Jetzt war ich zwischen den Bäumen, kam schnell voran. Ich bemühte mich, keine Geräusche zu machen.
Dann nahm ich den Geruch eines Lagerfeuers wahr. Ich hörte ruhige Stimmen. Zwischen den Bäumen machte ich Zeltplanen und einen Tharlarionwagen aus, dessen Kutscher die Tiere abschirrte. Soweit ich erkennen konnte, hatte keiner der Männer den Schrei gehört oder kümmerte sich darum.
Ich ging langsam weiter und kam zwischen den Zelten auf die Lichtung. Einige Wächter musterten mich neugierig. Einer stand auf und inspizierte den Wald hinter mir, um zu sehen, ob ich allein gekommen war. Ich sah mich um. Eine friedliche Szene breitete sich aus — die Lagerfeuer, die runden Zelte, das Abschirren der Zugtiere, eine Szene, wie ich sie aus der Karawane Mintars aus der Händlerkaste noch in Erinnerung hatte. Aber dies war nur ein kleines Lager und hatte wenig mit dem Pasanglangen Wagenzug gemein, mit dem der reiche Mintar zu reisen pflegte.
Wieder hörte ich den Schrei.
Ich sah, daß die Plane des Tharlarionwagens aus blauer und gelber Seide bestand.
Ich war in das Lager eines Sklavenhändlers geraten.
Langsam steckte ich mein Schwert in die Scheide und nahm den Helm ab.
»Tal«, sagte ich zu den beiden Wächtern, die am Fenster hockten und Steine spielten — ein Ratespiel, bei dem der eine Spieler erraten muß, ob die Zahl der Steine, die der andere in der Faust birgt, gerade oder ungerade ist.
»Tal«, sagte einer der Männer. Der andere, der mit Raten an der Reihe war, blickte nicht einmal auf.
Ich ging zwischen den Zelten hindurch und erblickte das Mädchen. Sie war blond; ihr Haar war so lang, daß es den ganzen Rücken bedeckte. Sie hatte blaue Augen und war verwirrend schön. Im Augenblick zitterte sie wie ein in die Enge getriebenes Tier. Sie war nackt an einen schlanken birkenähnlichen Stamm gefesselt, in kniender Stellung. Ihre Hände waren über ihrem Kopf hinter dem Stamm mit einer Sklavenfessel zusammengebunden. Ihre Fußgelenke waren hinter dem Baum mit einer kurzen Kette gefesselt.
Ihre Augen richteten sich flehend auf mich, als konnte ich sie von ihrem Schicksal erlösen, doch als sie mich anschaute, wurde ihr Blick, wenn das überhaupt möglich war, noch entsetzter, noch panischer. Sie stieß einen hoffnungslosen Schrei aus, begann zu beben und ließ den Kopf nach vorn sinken.
Ich vermutete, daß sie mich für einen weiteren Sklaventreiber hielt. Dicht neben dem Baum stand eine eiserne Feuerschale, in der sich glühende Kohlen häuften. Ich spürte ihre Hitze. In den Kohlen steckten drei Brandeisen.
Neben den Eisen stand ein stämmiger Mann mit freiem Oberkörper und dicken Lederhandschuhen, einer der Helfer des Sklavenhändlers. Er hatte nur noch ein Auge. Er musterte mich ohne großes Interesse, wahrend er auf die Brandeisen wartete.
Ich warf einen Blick auf den Schenkel des Mädchens. Sie war noch nicht gekennzeichnet.
Wenn ein Mann sich ein Mädchen fängt, brennt er ihr nicht immer sein Zeichen auf, obwohl das sehr oft geschieht. Ein professioneller Sklavenhändler dagegen achtet darauf, daß seine Ware eindeutig gekennzeichnet ist, und es geschieht selten, daß ein ungebranntes Mädchen zur Versteigerung kommt.
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